Auf der Galerie

Die Terminplanung des Gerichts hatte sich als zu optimistisch erwiesen. Unser Termin war für 12 Uhr angesetzt. Um diese Uhrzeit standen aber zwei weitere Termine an, die noch vorher verhandelt werden mußten.

Der Mandant folgte meinem Rat und setzte sich mit mir gemeinsam auf die Galerie. Damit die Zeit nicht zu lang wird. Wir konnten dann einem beeindruckendem Schauspiel folgen.

Der Angeklagte war allein gekommen. Ohne Verteidiger. Aber nicht ganz unvorbereitet, wie sich noch herausstellen sollte. Die Staatsanwaltschaft hatte ihn angeklagt, in drei Fällen die Beförderung durch die U-Bahn erschlichen zu haben. Die Juristen sagen dazu Beförderungserschleichung, normale Menschen reden von Schwarzfahrt.

Nach Verlesung der drei (!) Anklagen – die Verfahren wurden nach und nach miteinander verbunden – fragte der Richter den Angeklagten:

Und? Stimmt das, was die Frau Staatsanwältin da vorgelesen hat?

Der einsame Mann da vorne auf dem Präsentierteller Stuhl vor der erhabenen Richterbank räumte ein, zweimal ohne Ticket unterwegs gewesen zu sein: Im Oktober und November 2010 habe er kein Geld für den Fahrschein, aber etwas Wichtiges zu erledigen gehabt. Das tut ihm nun Leid und er entschuldige sich dafür.

Aber die Fahrt im Januar sei keine Schwarzfahrt gewesen. Er habe eine Monatskarte gehabt. Allerdings zuhause, nicht bei der Bahnfahrt dabei. Der BVG-Kunde habe gedacht, die freundlichen Mitarbeiter gucken mal in ihren Computer, dann würde das Umwelt-Abonnement festgestellt und die Sache sei erledigt. Denn schon ab Dezember sei er Stammkunde für die Umweltmarke. Er legte die Monatsmarken Dezember bis Mai oben auf den erhabenen Tisch des Richters.

Nun stellte sich die Frage nach der Rechtsfolge. Ich habe in der Schule gelernt, daß es eine Verurteilung in den zwei nachgewiesenen und eingeräumten Fällen geben müßte. Der dritten Fall wäre ein solcher für den Freispruch.

Daneben gedacht! Die Praxis sieht anders aus. Das Verfahren wegen der „Schwarzfahrt mit Monatsmarke“ wurde abgetrennt und nach § 154 StPO eingestellt. Kein Freispruch.

Die Abtrennung und Einstellung hat ein paar Vorteile für das Gericht und die Justizkasse. Ein Freispruch muß begründet werden. Die Einstellung erfolgt per Beschluß – d.h. die Arbeit übernimmt ein Stempelabdruck der Urkundsbeamtin.

Von entscheidender Bedeutung: Ein Freispruch hat eine Kostenfolge. Insoweit müssen nämlich die Kosten – in diesem Falle ein Drittel – von der Landeskasse getragen werden.

Hier erging aber das Urteil:

Der Angeklagte wird wegen Beförderungserschleichung in zwei Fällen verurteilt.
Er trägt die Kosten des Verfahren und seine notwendigen Auslagen.

Mir ist es schwer gefallen, zur Urteilsverkündung aufzustehen. Diese Entscheidung hat keinen Respekt verdient. Auch mein Mandant meinte, daß das ja nichts mit Gerechtigkeit zu tun habe. Recht hat er. Und das, ohne Jura studiert zu haben.

Dieser Beitrag wurde unter Gericht, Strafrecht veröffentlicht.

18 Antworten auf Auf der Galerie

  1. 1
    Patrunky says:

    Sind Sie sich sicher, dass im Rahmen des Einstellungsbeschlusses nicht entschieden wurde, dass insoweit die Staatskasse die Verfahrenskosten trägt ?

  2. 2
    Malte S. says:

    Denn die Sache war freispruchsreif und damit stellt die Einstellung eine Beschwer dar. Vielleicht sollte der Angeklagte über eine Revision nachdenken.

  3. 3
    blindcoder says:

    Das verstehe ich jetzt nicht ganz…

    Drei Anklagen, erst zusammengefasst, dann die eine wieder abgetrennt.
    Freispruch in der einen abgetrennten, Schuldspruch in den beiden noch zusammengefassten.

    Was ist denn jetzt falsch/ungerecht?

  4. 4
    PH says:

    Ungerecht ist, dass Kommentatoren nicht lesen :)

    Es erfolgte kein Freispruch, sondern Einstellung des Verfahrens.

  5. 5
    W says:

    Hm. Aber die Umweltkarte ist doch übertragbar? Ich muss zugeben, da noch nie drüber nachgedacht zu haben, aber macht dies die Läßlichkeit dann Beförderungserschleichung?

    Wo ich gerade anfange darüber nachzudenken, dürfte es wohl Probleme mit dem Absichtsnachweis geben, wenn nicht plötzlich der Überraschungszeuge aufspringt und aussagt, der Angeklagte habe ihm morgens am Frühstückstisch die Umweltkarte für den Tag gegeben..

  6. 6
    RA JM says:

    Uralter fieser Trick: Immer dann, wenn’s eng wird, kommt der 154-Joker ins Spiel, der – anders als §§ 153, 153 a StPO – auch keiner Zustimmung des Angenagten bedarf. Ekelhaft!

  7. 7
    McGruber says:

    Ich finde das auch nicht richtig.

    Eine Frage: Sie schreiben, dass der Angeklagte ohne Rechtsanwalt erschienen ist. Hätte ein Rechtsanwalt eine Entscheidung zu Gunsten des Angeklagten in Richtung eines Freispruchs erwirken können?

    Hintergrund der Frage: Wäre ich persönlich mal vor Gericht vorgeladen (was bisher noch nie der Fall war), würde ich auf jeden Fall in Gegenwart eines Anwalts auftauchen. Ich kenne mich selbst mit deutschem Recht da zu wenig aus. Mich interessiert, ob das – Ihrer Meinung nach – hier zu einem größeren Erfolg geführt hätte.

  8. 8
    fernetpunker says:

    Das ist eigentlich nicht okay.

  9. 9
    egal says:

    Einer Einstellung muss der Angeklagte zustimmen, das wird hier unterschlagen. Wenn also eingestellt wurde, dann wird er zugestimmt haben.

    Von daher ist er doch selbst schuld, wenn er eine ungünstigere Kostenfolge dann auch bekommt…

      Nein, das ist falsch. Die Einstellung nach § 154 (Absatz 2) StPO setzt keine Zustimmung des Angeklagten voraus. (siehe auch bereits den Kommentar des Kollegen RA JM). Selbst schuld, wenn man sich nicht auskennt mit dem, von dem man redet. Nicht wahr? crh
  10. 10
    Andreas says:

    Hmm, es hätte wohl freigesprochen werden müssen, denn auf Grund der – wenngleich übertragbaren – Monatskarte dürfte ein Tatnachweis auf subjektiver Ebene ausgeschlossen gewesen sein. Zivilrechtlich ist er natürlich trotzdem zur Zahlung des erhöhten Beförderungsentgelds verpflichtet, da die Karte übertragbar ist und somit nur beim Mitführen ein Fahren mit Fahrausweis gegeben ist.

    Am besten man kooperiert mit den Kontrolleuren. Bin letztens leider auch erwischt worden und habe so getan, als hätte ich eine nicht übertragbare Karte. Danach sofort die EUR 40,00 bezahlt. Hat sich insgesamt trotzdem gelohnt… :-)

  11. 11
    klabauter says:

    Herr Hoenig, Sie denken mE wirklich daneben.
    Freispruch hat nur dann Vorrang, wenn kein Tatnachweis erbracht ist oder möglich erscheint.

    Mag ja sein, dass der Angeklagte eine Monatskarte für Januar hatte. 154 StPO ist aber solange vertretbar, wie eine weitere Aufklärung möglich erscheint und solange nicht eindeutig die Unschuld nach Aktenlage und ggf. Ergebnis der HV feststeht (2 BvR 662/95)
    Hier könnte man z,B, an Ladung und Vernehmung eventueller Zeugen z.B. Kontrolleure /Nacherhebungsstelle, denken (da ich die Akten offenbar ebenso wenig wie Sie kenne, erlaube ich mir nur ein „eventuell“ und nicht ein eindeutiges Urteil: „Untergang des Rechtstaates“). Eindeutige Unschuld lag zumindest nach Ihrer Schilderung nicht vor. Die Einlassung „habe ich vergessen und habe gemeint, Kontrolleure können Abos im Computer prüfen“ kann man glauben, muss man aber nicht.

      [ ] Sie haben das Problem verstanden. crh
  12. 12
    RA Neldner says:

    Die Kostenfolge verstehe ich nicht wirklich. Normalerweise (so hatte ich es gerade heute früh) hätte das Gericht doch entscheiden müssen(/können), dass die ausscheidbaren Kosten für die Einstellung die Staatskasse trägt. Gut das nützt dem nicht anwaltlich vertretenen Angeklagten nur sehr wenig. Aber: besser als gar nichts.

      Die Justiz läuft hinter jedem halben Cent her. Warum sollte der Justizunterworfene ihr gegenüber großzügig sein? crh
  13. 13
    Ö-Buff says:

    Ob es für den armen Mann mit Verteidiger günstiger geworden wäre?
    Selbst wenn die beiden Verurteilungen durch den Verteidiger zu Einstellungen und die Einstellung zum Freispruch umgebogen worden wären, wäre doch trotzdem ein stattliches Sümmchen an den Verteidiger geflossen, oder? Das wäre sicherlich berechtigt gewesen, aber ob es am Ende die günstigere Variante gewesen wäre?
    Was hätte das denn so gekostet?

      Es kommt drauf an. Manche Mandanten bekommen eine Verteidigung vor der Strafkammer schon ab 20 Euro. crh
  14. 14
    selber says:

    @Herrn Hoenig bezüglich Anmerkung zu Nr. 9: Das gilt für Sie genauso bei den meisten Dingen, bei denen es nicht um das Strafprozessrecht geht. Arroganz kann sich niemand leisten und anderen ihre Fehler unter die Nase zu reiben ist ungehörig. Wenn man Sie so liest, erwartet man ja mindestens zweimal 18 Punkte (in Bayern). Wenn Sie die haben, so werfen Sie den ersten Stein. Ansonsten contenance, s.v.p.

      Von den Kommentatoren kann man das Bewahren der Contenace aber nicht verlangen, oder? (Wald ./. Echo) crh
  15. 15
    fernetpunker says:

    Man muss nicht 18 Punkte vorweisen können, um jemand auf eine fehlerhafte Ansicht hinweisen zu dürfen. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.

  16. 16
    McGruber says:

    @Ö-Buff: Naja, wenn man aber rechtsschutzversichert ist, dürfte sich das finanzielle Problem für den Menschen eher gering halten.

    Ich halte es halt als Nicht-Jurist irgendwie für fahrlässig, sich ohne Anwalt vor einem Gericht zu verteidigen, befand mich aber gottseidank noch nie in der Situation. Ich hätte da einfach Angst, dass ich da als juristischer Laie über den Tisch gezogen werde, ohne das selbst überhaupt zu merken.

    Daher meine Frage weiter oben, ob ein juristischer Beistand hier an dem Urteil was ändern hätte können.

      Ja. crh
  17. 17
    Ö-Buff says:

    @McGruber: Wenn er rechtschutzversichert wäre, hätte er sich wohl nicht selbst verteidigt.

      In solchen Fällen übernimmt in der Regel kein Versicherer die Kosten. crh
  18. 18
    me says:

    Ohne Verteidiger ist man immer aufgeschmissen, so mein Eindruck. Schon rein systematisch.

    Auch wenn man es mit einem nicht böswilligen StA zu tun hat, also in concreto mit mir als StA-Sitzungsvertreter :-), dann hätte ich mich bei allen meinen Fällen unwohl gefühlt, wenn auf der anderen Saalseite nicht ein Rechtskundiger gesessen hätte.

    Bei zwei Verhandlungen, wo ich nur zugeguckt hatte, kam es dann auch jeweils zu Urteilen, die mit Verteidiger besser ausgefallen wären:

    1) wie hier Schwarzfahrer, gleich 10 mal oder so. Alle relativ schnell hintereinander. (Stichwort enger zeitlicher Tatzusammenhang). Der Angeklagte gesteht alles ein. Die Amtsanwaltschaft(!) plädoyiert: für die erste Tat 5 Tagessätze, die zweite 10, die dritte 15 … bis hoch zu 60 oder so …

    2) StA und Gericht erzählen was, was ich nach meinem gesammelten Ausbildungswissen als klassische Definition der gröbsten groben Fahrlässigkeit kenne. Und raus kam dann eine Vorsatztat.

    IMHO gibt es immer einen Grund zur Verteidigung, selbst wenn man mit einem Schuldspruch rechnet.