Ein Kommentar unter einem meiner Blogbeiträge im law blog bedarf einer Kommentierung. Es ging um einen aufgeweckten Staatsanwalt:
Was passiert, wenn ein Angeklagter einer Ladung des Gerichts nicht folgt? Es setzt ein Reflex ein. Der 230er-Reflex: Der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft beantragt den Erlaß eines Haftbefehls und bezieht sich auf § 230 Abs. 2 StPO. Wenn er gute Laune hat, beantragt der Staatsanwalt auch nur die Vorführung. Hat er in der Nacht vorher schlecht geschlafen, träumt er jetzt von einem flüchtigen Angeklagten und ihm erscheint § 112 Abs. 2 Nr. 1 u. 2 StPO vor seinem inneren Auge.
Der feige(*) anonyme Hans meint dazu (am 18.12.2011 um 08:29):
Lustiger Bericht, wenn mal davon absieht, dass die Voraussetzungen eines Haftbefehls in der StPO geregelt sind und nicht vom guten oder schlechten Schlaf der Beteiligten abhängen.
Das ist – oberflächlich betrachtet – erst einmal zutreffend. § 112 StPO regelt den Erlaß eines Haftbefehls. Schauen wir uns diese Norm etwas genauer an.
Man liest dort zunächst:
Die Untersuchungshaft darf […] angeordnet werden.
„Darf„. Nicht „muß“ steht dort. Der Richter, der diese Anordnung trifft, kann sie treffen. Oder eben auch nicht. Das hängt davon ab, in welche Richtung ihn die Hohe See treibt. Höflicher formuliert: Zu welchem Ergebnis ihn sein pflichtgemäß ausgeübtes Ermessen führt.
Jedenfalls muß dieser Richter dabei prüfen, ob ein Haftgrund vorliegt. Dazu gibt es auch eine Bedienungsanleitung, den Absatz 2 des § 112 StPO. Aus Einfacherdeutlichkeitsmachungsgründen zitiere ich an dieser Stelle die Nr. 2: Ein Haftgrund liegt vor, wenn
bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles die Gefahr besteht, daß der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen werde (Fluchtgefahr),
Der Richter muß „würdigen“. Was nichts anderes heißt wie „abwägen“. Also wieder eine Entscheidung treffen, die so oder anders ausfallen kann. Nicht muß.
Diese Entscheidung betrifft einen Blick in die Zukunft. Denn der Richter muß heute die Gefahr sehen, daß der Beschuldigte morgen abhaut. Für solche Prognose-Entscheidungen gibt es äußerst wirksame Instrumente; ein solches Hilfsmittel gibt es auch in unserer Kanzlei.
Das sind also ein paar der Elemente, die die Ausgangsposition des Richters bestimmen, wenn der Staatsanwalt einen entsprechenden Antrag stellt. Natürlich darf der Richter auch über die Fluchtgefahr nachdenken, wenn der Staatsanwalt keinen Antrag stellt. Wenn er aber vorliegt, der Antrag, dann muß er, der Richter, entscheiden.
Und auch der Staatsanwalt bewegt sich in solchen Gewässern, wenn er einen Sachverhalt zu Ohren bekommt. Auch er muß gewissenhaft abwägen, ob er den Antrag stellt oder nicht. Ein Verteidiger darf sehenden Auges Anträge stellen, die unbegründet oder gar unzulässig sind. Ein Staatsanwalt darf das nicht. Er muß vorher prüfen und für sich feststellen, daß sein Antrag zulässig und begründet ist.
Also trifft auch der Staatsanwalt eine Art Ermessensentscheidung. Und das ist genauso wenig die Lösung einer Mathematikaufgabe wie die Entscheidung des Richters über diesen Antrag.
Und wer sich in der Schule bereits mit diesem undurchschaubaren Zahlenwerk der „Mathe“ auseinander gesetzt hat, weiß, daß man umso bessere Ergebnisse erzielt, je wacher man ist. Wer einen dicken Kopf hat, macht Fehler. Dasselbe gilt erst Recht für Ermessensentscheidungen.
Und deswegen ist der gute Schlaf eines Staatsanwalts entscheidend für den Ausgang eines Strafprozesses, lieber Hans.
Ich weiß nicht., was an dem Kommentar so schlimm ist. Rechtspositivismus und Begriffsjurisprudenz bestimmen nun mal ebenso das Denken der meisten Nichtjuristen wie (daraus folgend) die Vorstellung vom Richter als Subsumtionsautomat, der bei gegebenen Sachverhalt, wenn er richtig handelt, zwingend auf die richtige Rechtsfolge erkennt.
Keynes soll gesagt haben:„Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verstorbenen Ökonomen.“ Das trifft auch auf die Juristerei zu.
Also ich weiß nicht, was das mit dem ‚feige‘ soll, auch wenn’s durchgestrichen ist. (Mir ist bewusst, dass dies nach den Sternchen näher erläutert wird. Aber das macht es nicht besser. Im Gegenteil!
Sich anonym äußern zu können könnte zwar eine Geißel sein (Trolle; sinnlose Kommentare), sind aber der einzige Weg, wenn man nicht Angst haben muss, dass einem das Gesagt in irgendeiner Form mal auf die Füße fällt.
@RA Neldner: In der Sache ggf. leider zu detektierender Rechtspositivismus, in der Form der Äußerung aber auch ein gesundes Missvertrauen gegenüber dem Rechtssystem – deswegen anonym.
Oder steht dieser Blog mittlerweile für anonymitätsaufweichende Slogans wie „Wer nichts zu verbergen hat …“ mit denen der Rechtsstaat langsam aber sicher von Sicherheitsfanatikern und Weltmachtsansichreißern abgeschafft wird? Ich hoffe nicht!
Feigheit und Anonymität zwingend zu verknüpfen, empfinde ich auch falsch.
Und genau deshalb ist jeder Strafprozess soll heißen die gesamte Rechtsprechung für den A… . Letzten Endes geht es um Gefühle, Befindlichkeiten und Stimmungen. Fakten ? Ach bitte dazu muss man denken, logisch denken, das kostet Kalorien ( und ist nicht jedem gegeben wer weniger als IQ 140 hat sollte es lassen ) und wer kann sich das den heutigentags noch leisten ?
Sehr geehrter Herr Hoenig,
Als „noch“ Referendar in Berlin habe ich gerade zum Sitzungshaftbefehl eine recht eingeschränkte Sichtweise. Ich gehörte in der staatsanwaltlichen Station zu den Referendaren, welche sich vor jeder Sitzung in die Akte eingearbeitet haben. Ich wusste was in der Hauptakte stand, da ich diese, sofern ich nicht am Freitag noch eine Akte für Montag bekommen habe, parallel zur Handakte gelesen und auch nachvollzogen habe.
Nachdem ich nun für jede Akte nicht wenig Zeit investiert habe und auch kleine Voten dazu verfasst habe, um auch wirklich gut vorbereitet in die Sitzung zu gehen sowie im Vorfeld noch dem Ausbilder einen kurzen Abriss gegeben habe, waren für einen Sitzungstag schon mal mindestens 1 Tag Vorbereitung weg.
Jeder hauptamtliche Staatsanwalt sagt dann, wenn man ihm davon berichtet, „selber schuld“!. Ich schau mir die Handakte mal schnell 10 min vor der Sitzung, machen sie sich mal nicht so viel Aufwand ;).
Wenn nun nach der ganzen Vorbereitung der Angeklagte nicht erscheint, war diese für die Katz. Fortsetzer gibt es in einem solchen Fall nicht und dann ist die Ermessensausübung ganz einfach und erfolgte bei mir auf recht simple Art. Ich erspare dem nächsten Referendar, der sich, wenn der Angeklagte Glück hat, auch so umfangreich in den Fall einarbeitet dieses Erlebnis und sorge dafür, dass der Angeklagte gekommen wird. Eine Vorführung sichert nicht, dass der Angeklagte zuhause ist, also wird das Zuhause bis zur Verhandlung nach Moabit verlegt.
Härtester Fall: Angeklagte kommt nicht -> Vorführung (war auch nicht erfolgreich) -> Sitzungshaftbefehl (in Mönchengladbach festgenommen -> Verschubung nach Berlin) -> Haftbefehl ausgesetzt und natürlich dank schlampiger Berliner Handaktenführung der Aussetzer nicht in der Handakte -> Referendar bekommt Akte am Freitag nachträglich und darf Montag ran.
Als mir die Richterin erzählte, dass sie den 230er ausgesetzt hat, wusste ich, es gibt eher Feierabend und es wird sich ein vierter Referendar mit dieser Akte beschäftigen dürfen.
„Ein ‚Darf‘ ist ein ‚Muss‘ wenn man kann.“ ist einer der einprägsamsten Sätze, die mir aus dem Jura-Studium im Kopf geblieben sind. (Wenn er auch nicht im Zusammenhang mit dem Strafverfahrensrecht fiel.)