Die Zahl der Spielregeln, nach denen ein Strafprozeß abläuft, geht gegen unendlich. Wichtig ist selbstredend das geschriebene Recht, zentral ist hier die Strafprozeßordnung (StPO) zu nennen. Daneben gibt es aber auch reichlich ungeschriebenes Recht. Gegenseitiges Vertrauen und Zuverlässigkeit sind an dieser Stelle von Bedeutung. Wie man mit diesen Regeln nicht umgehen sollte, zeigt eine Richterin am Amtsgericht in einer vernachlässigten Kleinstadt im Lande Brandenburg.
Wilhelm Brause hat eine bewegte Vergangenheit und zwei offene Bewährungen. Nichts Besonderes eigentlich. Abgeschlossene Ausbildung (obwohl es kein Elternhaus gab), keinen Job (weil es in dem Kaff keine Jobs gibt), Alkohol (weil es den dort reichlich gibt), Ladendiebstähle und auch ein kleiner Betrug, lautet die verkürzte Vita.
Die letzte Sache war ein Diebstahl mit einem „Beutewert von 27,44 € und von 11,16 €“. Dafür hatte er sich 8 Monate bedingte Freiheitsstrafe eingefangen, fünf Jahre Bewährungszeit, 150 Arbeitsstunden und einen Bewährungshelfer. Das war 2008.
Dann gab es ein Ereignis für Wilhelm Brause, das auch einen gestandenen Mann aus den Pantoffeln gehauen hätte. In dessen Folge eine Fehlentscheidung und einen weiteren Diebstahl:
In der Verhandlung vor dem besagten Amtsgericht ist es mir gelungen, die Staatsanwältin milde zu stimmen. Eine erneute Bewährungsstrafe hätte sie durchgehen lassen. Die Richterin hatte andere Vorstellungen. Brause bekam 3 Monate ohne Bewährung.
Es war abgesprochen, daß ich Berufung einlege und die Richterin sich – in den Grenzen des geschriebenen Rechts – alle Zeit der Welt nimmt, bis das Urteil ausgefertigt ist und bis die Akte dann zum Landgericht geschickt werden soll. Die Zeit, bis dann ein Termin zur Berufungsverhandlung festgesetzt werden kann, solle Brause als Vorbewährungszeit nutzen. Mit nur wenig Glück bekommt er dann vom Landgericht die begehrte Strafaussetzung zur Bewährung.
Brause nutzt die Zeit. Er hält Kontakt zur Bewährungshilfe, erledigt die 150 Arbeitsstunden, findet eine solide Arbeit, hat eine Partnerin, mit ihr ein Kind und lebt in gut bürgerlichen Verhältnissen. Der Termin vor dem Landgericht steht an.
Dann bekommt Brause Post. Von dieser Richterin, die ihm eine Chance beim Berufungsgericht versprochen hatte.
Sie widerruft die Strafaussetzung der Vorstrafe!
Das ist legal. Das darf sie. Sie verstößt nicht gegen geschriebenes Recht. Aber sie bricht Versprechen, mißbraucht Vertrauen und erweist sich als unzuverlässig. Und damit als unwürdig für den Job, den sie macht. Meine Achtung hat sie verloren.
Das ist ein Schlag… ich habe selbst schon einmal einen solchen „besonderen Einzelfall“ Fall erlebt, in welchem das Amtsgericht ein drittes Mal Bewährung gegeben hat. Das wäre hier in der Tat auch ausnahmsweise möglich gewesen.
Ich kapier nicht, warum das Verhalten der Richterin viel schlimmer sein sollte, als wenn sie gleich die Strafe ohne Bewährung verhängt hätte. Klar, sie hält eine Zusage nicht ein, aber der Beschuldigte wird doch im Vergleich zur sofortigen bewahrungslosen Strafe doch nicht schlechter gestellt. Oder anders gefragt: Wie „mißbraucht“ sie denn das Vertrauen? Es ist ja nicht so (zumindest kommt das für mich nicht aus dem Sachverhalt raus), dass der Verteidiger irgendeine Handlung versäumt hätte, weil er auf die Zusage der Richterin vertraut hätte, oder?
@alter Jakob:
Es würde wohl vereinbart nochmal eine Bewährung zu gewähren. Und dann macht sie das doch nicht, wäre für mich auch ein Vertrauensverlust. Zumal der Mandant ja scheinbar sein Leben in den Griff bekommen hat und in der jetzigen Situation wohl ein produktiveres Mitglied der Gesellschaft sein dürfte als im Knast und danach.
Habe ich auch schon hier erlebt. Aber im kleinen Saarland macht das ein Richter nur einmal. Für die Zukunft kann er dann davon ausgehen, bei diesem Anwalt sicherlich recht wenige geständige Mandanten, dafür aber viele Beweisanträge zu haben.
Man sieht sich hier doch recht häufig.
Das Verhalten der Richterin war doch von Anfang an irrational. Sie will keine Bewährung verhängen, aber dann kooperieren damit dann stattdessen das LG die Bewährung verhängt? Was ist das denn für ein Unfug?
Richterin auf Probe? Hauptverhandlung mit dem Alpmann-Skript ‚StPO‘ auf den Knien? Naja, dafür gibt es ja kanzleiinterne Schwarze Listen (auch wenn das dem Mandanaten hier nichts mehr bringt).
Die Schilderung ist sichtlich von Empörung getragen, enthält aber im entscheidenden Punkt eine Lücke, welche den hier gemachten Vorwurf bei genauer Betrachtung in sich zusammenfallen lässt: An welcher Stelle hat denn die Richterin geäußert: „Mit dem Widerruf der Bewährungen warte ich ab, bis sich zeigt, wie das Berufungsgericht über die Bewährung denkt?“
Das Versprechen wird vielmehr recht vage geschildert, sodass man auch keine rechte Vorstellung bekommt, was denn eigentlich genau versprochen worden sein soll. Wenn am Ende einfach nur auf die Bitte, sich nicht so zu beeilen, so etwas gesagt worden sein sollte wie: „Ich setzte das Urteil in etwa 4 Wochen ab.“, dann finde ich nicht, dass man unter diesen Umständen davon ausgehen darf, dass der Bewährungswiderruf unterbleibt.
Aber vielleicht lässt sich ja die Beschweredekammer erweichen.
Wo ist das Problem? Der Bursche ist mehrfach verurteilt worden. Offensichtlich haben vorherige Auflagen und die Bewährung ihn nicht bewegen können Straftaten zu unterlassen. Und nun fährt er ein.
Natürlich passiert jedem mal was blödes. Aber Serientäter brauchen manchmal eine etwas klarere Ansage. Wenn er jetzt beim LG doch noch davonkommt, dann hat er es vielleicht begriffen.
Im Übrigen dürfte es der Richterin so ziemlich egal sein, wie empört Sie sind.
@Tante Hilde
Darum geht es doch gar nicht?! Wenn die Richterin vorher sagt sie macht A und dann macht sie B dann hat man beim nächsten Mal kein Vertrauen mehr in ihr Wort.
Zumal am weiteren Werdegang des Mandanten doch eine Besserungsabsicht erkennbar ist (Job, Familie, Bewährungsauflagen erfüllt). Wenn er jetzt in den Knast geht wird das alles gefährdet. Wenn einen das nicht schon aus menschlichen Aspekten interessiert, dann vielleicht aus kapitalistischen, denn am Ende kommt es die Gesellschaft deutlich teurer wenn er in den Knast geht und danach vielleicht Hartz 4 hat, statt dass er selber arbeitet und Steuern zahlt.
Der Angeklagte hat IN EINER APOTHEKE Waren mitgehen lassen, um sie zu verkaufen.
Was mich da interessieren würde: Hat der Mann in der Apotheke jetzt nur KOSMETIKA mitgehen lassen oder handelte es sich um verschreibungspflichtige MEDIKAMENTE?
Mit Codeintropfen, die in der normalen Schublade liegen, lassen sich an jedem Bahnhof bei einem Junkie verdammt viel Geld verdienen, selbst wenn diese aufgrund der niedrigen Dosierung noch nicht dem BTM-Recht unterliegen.
Was hat der Typ mitgehen lassen?
Abgesehen von der mangelnden Fairness: Normalerweise müsste Herr Brause doch zum Bewährungswiderruf zumindest mal schriftlich angehört worden sein, 453 I 2 StPO . Hat Herr Brause darauf reagiert oder Vogel Strauß gespielt?
@Apoboy: Da oben steht „Waren … aus den Auslagen entnahm“. Und in den mir bekannten Apotheken liegen in den Auslagen nur Kosmetika, Vitamintabletten, Pflaster u.a., aber keine apotheken-, geschweige denn verschreibungspflichtigen Medikamente – ist AFAIK so auch Vorschrift.
Moment mal – durch die Berufung ist doch das Urteil gar nicht rechtskräftig, auf das die Richterin abhebt?
> Sie widerruft die Strafaussetzung der Vorstrafe!
>
> Das ist legal.
Ich erinnere mich dunkel, dass das nicht legal ist. Der Widerruf der Bewährung setzt (für das Verfahren, das der Anlass ist) eine rechtskräftige Verurteilung oder ein glaubhaftes Geständnis voraus.
Ui. Das ist wirklich umfangreich kommentiert und ein bisschen umstritten. Meine (aus der Erinnerung gekramte) Meinung wird z. B. auch in Kindhäuser, § 56f StGB, Rn. 7 vertreten:
> Damit ist auch eine rechtskräftige Verurteilung der
> neuen Tat Voraussetzung für diesen
> Bewährungswiderruf. […]
> Ein Abweichen von dieser Regel, […] erscheint
> entsprechend der Entscheidung der
> Europäischen Kommission für Menschenrechte
> nur dann zulässig, wenn […] die selbst
> eingeräumte Schuld für eine nachteilige
> Entscheidung zugrunde gelegt wird […]
Mit weiteren Nachweisen aaO.
Oh. Er hat sich geständig eingelassen. Damit ist mein Spam fast sinnlos. Aber er beantwortet immerhin die Frage von Wolfram.
Ich sehe da jetzt auch keine Zusage der Richterin, die Bewährung nicht zu widerrufen. Sie hat doch die letzte Verurteilung nicht zur Bewährung ausgesetzt. Offenbar vermisst sie eine günstige Sozialprognose. Und bei einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung nach Geständnis müsste man den Richter, der dann eine offene Bewährung nicht widerruft, erst noch erfinden.
Zitat 1:
Es war abgesprochen, daß ich Berufung einlege und die Richterin sich – in den Grenzen des geschriebenen Rechts – alle Zeit der Welt nimmt, bis das Urteil ausgefertigt ist und bis die Akte dann zum Landgericht geschickt werden soll. Die Zeit, bis dann ein Termin zur Berufungsverhandlung festgesetzt werden kann, solle Brause als Vorbewährungszeit nutzen.
Zitat 2:
Brause nutzt die Zeit. Er hält Kontakt zur Bewährungshilfe, erledigt die 150 Arbeitsstunden, findet eine solide Arbeit, hat eine Partnerin, mit ihr ein Kind und lebt in gut bürgerlichen Verhältnissen.
OFFENSICHTLICH hat die Richterin genau das eingehalten, was sie versprochen hat: sie hat sich Zeit gelassen. (Brause hat wohl die 150 Stunden nicht in einem Monat abgerissen).
Ansonsten hat sie sich an das Gesetz gehalten Widerruf bei Geständnis; Rechtsmittel wurscht. DIES war auch nicht versprochen.
Der eine klaut, um die Oma zu besuchen, der andere, um den hungernden Kindern ein Weihnachtsgeschenk… . Wenn es wirklich danach gehen soll, wie der Eintrag auf mich wirkt, also dass man danach auch die weitere Entwicklung beurteilen soll, dann ist man bei „Tätermotivationsstrafrecht“ angelangt. Allenfalls können diese „ehrhaften“ Motive, der Wahrheit unterstellt, bei der Strafzumessung einfließen.
Widerruf der Würde – schöne Polemik! Sicherich gab es die Würde vorher per VA etc.
Natürlich kann es auch einfach sein, dass sich die Richterin bei Vorlage des Bewährungsheftes nicht an den konkreten Fall erinnerte. Die hat ja schließlich nicht nur eine Bewährungssache zu bearbeiten, sondern eher 100-200… Dann noch ein unauffälliger Name des Verurteilten – da sieht man dann manchmal auch nur die neue Verurteilung nach Geständnis ohne Bewährung und widerruft dann auch die Bewährung in der anderen Sache. Grds. in einem solchen Fall erst nach schriftlicher Anhörung. Wurde dabei die Gelegenheit zur Stellungnahme genutzt? Ggf. hilft ein Anruf…
Hier wurde schon richtig dargestellt, dass die Absprache doch offensichtlich eingehalten worden ist! Denn ihr Mandant wird die Arbeitsstunden ja nicht in zweich bis drei Wochen abgeleistet haben. Die Absprache hatte nur zum Gegenstand, dass sie sich Zeit lässt, mehr nicht. Das andere ist doch ein völlig anderes Verfahren. Dabei gilt aber, dass sie selbstverständlich vorher rechtliches Gehör hätte geben müssen.
Insoweit stellt sich für mich der Sachverhalt so dar, dass sie immer noch davon ausging, ihre Prognose zum Zeitpunkt des Urteiles läge immer noch vor. Die Umstände haben sich aber zwischenzeitlich verändert, was sie, hätte sie rechtliches Gehör gewährt (vielleicht hat sie es ja und der Mandant hat nichts unternommen?), auch hätte berücksichtigen müssen. Vielleicht, das ist aber eine reine Mutmaßung, war sie noch von ihrer Meinung aus der Hauptverhandlung verschrieben, ohne sich erneute Gedanken zu machen.
Jedenfalls hat sie keine Absprache gebrochen, auch wenn es hier für den Mandanten natürlich unglücklich ist.
Ich finde es auch seltsam, dass der Widerruf ohne vorherige Anhörung kommt. Aber wenn es denn einmal so ist, bleibt nur noch auf Gott und die Beschwerdekammer vertrauen.