Keine Zahnbürste wegen Saalverhaftung

81658_web_R_K_by_Paul-Georg Meister_pixelio.deEs ist so ziemlich das Härteste, was einem Angeklagten und seinem Verteidiger in einer Wirtschaftsstrafsache passieren kann.

Der Mandant kommt artig zu allen Terminen, voll der Hoffnung, daß es am Ende gut für ihn ausgeht. Keine Frage, der Verteidiger ist Berufsoptimist, er prognostiziert – je nach Charakter mehr oder minder vorsichtig warnend – eine relativ rosige Zukunft.

Am Ende der Beweisweisaufnahme beantragt der Staatsanwalt eine Freiheitsstrafe, die nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Der Verteidiger plädiert und beantragt wie mit dem Mandanten absprochen den Freispruch.

Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück und verkündet später das Urteil, das dem Antrag des Staatsanwalts nahezu entspricht. Das gibt schon das erste Mal richtig weiche Knie beim Angeklagten und Enttäuschung beim Verteidiger.

Wenn dann aber nach ellenlanger mündlicher Urteilsverkündung auch noch ein Beschluß ergeht, der die Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr anordnet, und dieser Beschluß dann sofort vollstreckt wird, bleibt dem Angeklagten noch nicht einmal Zeit, sich eine Zahnbürste zu besorgen.

Genau das ist heute dem ehemalige Arcandor-Chef passiert, berichtet Zeit Online:

Der frühere Top-Manager M* ist wegen Untreue und Steuerhinterziehung zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Wegen Fluchtgefahr musste er direkt in U-Haft.

Ich kann nicht beurteilen, ob das Gericht da richtige Entscheidungen getroffen hat. So oder so, es wird für Herrn M* kein schönes Wochenende und eine elend lange Zeit bis zum Haftprüfungstermin in der kommenden Woche. Ohne Zahnbürste. Dafür bedauere ich ihn.

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Bild: Paul-Georg Meister / pixelio.de

Dieser Beitrag wurde unter Steuerstrafrecht, Strafvollstreckung, Verteidigung, Wirtschaftsstrafrecht veröffentlicht.

21 Antworten auf Keine Zahnbürste wegen Saalverhaftung

  1. 1
    Strafakte.de says:

    Er findet sicherlich einen lieben Menschen, der ihm eine Zahnbürste vorbeibringt – notfalls mit dem Hubschrauber ;-)

    • Je nach Untersuchungshaftanstalt ist ein Kontakt zum Verteidiger (!) und/oder zur Familie über das Wochenende nicht möglich. Es mangelt schlicht an Personal, das die Zahnbürste auf Waffen und sonstige gefährliche Gegenstände durchsucht. So jedenfalls in der UHA Moabit, ich denke, das ist bei Euch am Holstenglacis nicht anders. crh
  2. 2
  3. 3
    Gut Mensch says:

    Wären deshalb nicht Termine Montag bis Mittwoch (nur Notfalls Do) für solche urteilsverkündenden Termine fair und sinnvoll? Oder ein Samstags-Dinest für die prüfenden Richter (dafür Mo frei ;) )
    Auch im Sinne von EuGMR…

    Man muss Verteidiger (und Delinquenten) ja nicht mögen, aber der Verurteilte (nein, nicht einmal DIESER) sollte doch nicht 2 Tage auf eine Haftprüfung warten müssen. Jedenfalls nicht wegen „Bad Luck“-Friday.

  4. 4

    Wenn er A* völlig vernichtet, alle Vermögenswerte herausgerissen und Rettungsgeld beantragt hätte, wäre er mit einer Bonuszahlung davon gekommen. Ein hartes Urteil.

  5. 5
    uniprofessor says:

    liebe leser und leserinnen, ZAHNBÜRSTE gibts GRATIS beim “ einrücken “ in die JVA (bundesweit)

  6. 6
    or says:

    als OWL’er möchte ich anmerken, dass ich heute aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen gehört habe, das TM nicht mehr seinen ersten Wohnsitz in Bielefeld angemeldet hat sondern in St.Tropez. Könnte unter Umständen ein nicht unwesentlicher Faktor gewesen sein. Ich vermute – just my simple opinion – dass sich da jemand gedacht hat, dass dem Gerichtsvollzieher nicht so schnell eine Dienstreise nach Südfrankreich genehmig wird.

    • Der Wohnsitz in einem EU-Ausland ist – für sich genommen – kein die Fluchtgefahr begründendes Argument. Da wird wohl noch was hinzugekommen sein.
       
      FYI: Internationale Haftbefehle werden von den Polizeibehörden vor Ort (in diesem Falle also von französischen Flics) vollstreckt; der verhinderte Flüchtling wird dann in das Land des HB-Ausstellers ausgeliefert und verschubt. Der gute deutsche Gerichtsvollzieher hat an der Cote d’Azur nichts zu suchen (allenfalls als Badegast, wenn er sich das leisten kann). crh
  7. 7
    Auch eine Meinung says:

    Ich prognostiziere mal: wird der Haftbefehl im Haftprüfungstermin oder bei späterer Beschwerde nicht außer Vollzug gesetzt oder aufgehoben, wird das Urteil rechtskräftig.

    Nur so kommt er aus der Untersuchungshaft in einen Strafvollzug. Und das ist, wie er durch Beratung und eigene Erfahrungen merken wird, ein himmelweiter Unterscheid. Wie gut sind seine Nerven?

    Zynisch betrachtet: taktisch hat das Gericht eine kluge Entscheidung getroffen, sollte es Angst vorm BGH haben. Pokern wir doch mal ein wenig…

    Jedenfalls (fast) das Dümmste, was einem Angeklagten passieren kann (imho).

  8. 8
    Ich noch einmal says:

    @Uniprofessor.

    1) Wenn Sie Glück haben, dann schon.

    2) Wenn Sie Pech haben, dann leider auch mal nicht.

    3) Diese Zahnbürsten wollen Sie ganz sicher nicht benutzen, nachdem Sie die Nacht auf einem Stahlbett verbracht haben und mit kaltem Wasser Ihre Morgentoilette erledigt haben.

    Wobei: das macht den Kohl dann auch nicht mehr fett.

  9. 9

    Wobei ich mich frage: Was soll das? 3 Jahre = Fluchtgefahr? Wo soll er denn hin? Den kennt doch jeder. Also: U-Haft schafft Rechtskraft :-(

  10. 10
    MaxR says:

    Es scheint da ja noch weitere Verfahren zu geben, wo gute Freunde an sein (bzw laut Auffassung der Freunde: deren) Geld wollen.
    Sollte er eine Chance haben, an Flüssiges heranzukommen, wäre das mit der Fluchtgefahr nicht so abwegig. Es gibt ja auch Ecken in der Welt, wo die EU wenig Zugriffschancen hat und es gibt sicher Wege, dort hinzukommen. Und das Bild von Grover Cleveland ist manchmal mehr wert als das eigene Paßfoto.

  11. 11
    HD says:

    @Burhoff
    Also, wenn ich so alt wäre wie er, noch schönes Leben vor mir habe und genug Geldmittel, um mich auf eine Karibikinsel oder sonstwohin zu verkrümeln, von wo nicht ausgeliefert wird, dann würde ich mir auch bei 3 Jahren überlegen, ob ich vielleicht nicht doch stiften gehe. Fluchtgefahr ist gut begründbar – sicherlich mehr als bei vielen anderen Fällen, wo dennoch U-Haft angeordnet wird.

  12. 12

    @HD
    Meinen Sie wirklich? Mit 61 sich den Rest des Lebens auf der Flucht – so weit die Füße tragen. Ich habe da erhebliche Zweifel und hätte den Haftbefehl nicht erlassen bzw. ihn zumindest sofort außer Vollzug gesetzt – denn die Geldmittel sind ja, wie Sie sagen.

  13. 13
    T.H., RiAG says:

    Um bei einem Angeklagten, der sich dem gesamten Verfahren bislang gestellt hat, eine Fluchtgefahr zu begründen, muss man sich iaR ziemlich strecken. Herr M. allerdings dürfte doch einige Auslandskontakte haben, da ist womöglich auch das eine oder andere Fleckchen Erde dabei, wo die Auslieferungsgefahr nicht ganz so groß ist wie in Frankreich. 3 Jahre und Frankreich-Wohnsitz alleine dagegen dürften zu wenig sein.

  14. 14
    Th. Koch says:

    Im Übrigen dürfte gut begründbar sein, in diesem Falle trotz Überschreitens der 2-Jahres-Grenze eine Halbstrafe anzustreben (erstmalige Verurteilung, keine Vorstrafen, Belastung der Angehörigen, Alter – fehlt nur noch gesundheitliche Beeinträchtigung). Bei einem baldigen Einrücken wäre Herr M zu Ostern Freigänger und vorauss. ein Jahr später wieder draußen.

  15. 15
    Engywuck says:

    Nuja, Herr M. ist vor einigen Monaten, nur um Fragen von Journalisten zu entgehen, aus dem Fenster drei meter auf ein Garagendach gesprungen und hat das dann auch noch stolz bestätigt.

    Nun stehen aber nicht unangenehme Journalistenfragen sondern drei Jahre gesiebte Luft an. Mag ja sein, dass (für ihn) die Journalisten schlimmer wären, aber so ganz kann ich Fluchtgefahr auch nicht verneinen.

  16. 16

    […] Die Saalverhaftung Middelhoff, […]

  17. 17
    Denny Crane says:

    Die übliche Begründung für die Fluchtgefahr in einem solchen Fall ist, daß der Angeklagte nicht mit einer Freiheitsstrafe gerechnet habe, weil seine Verteidiger Freispruch beantragt haben. Ist zwar nicht tragfähig, ist so aber immer wieder in Haftbefehlen zu lesen.

    Wer als Verteidiger Berufsoptimist ist, hat den Beruf verfehlt. Im Gegenteil muß man Berufspessimist sein und den Mandanten auf das Schlimmste vorbereiten. Im Hinblick auf die differierende Anträge von StA und Verteidigung hätte ich dem Angeklagten vor der Urteilsverkündung eröffnet, daß er mit dem Erlaß eines Haftbefehls rechnen muß, falls das Gericht der StA folgt.

    Sollten die Verteidiger ihren Mandanten in dem Glauben bestärkt haben, ein Freispruch sei so gut wie sicher, er solle sich keine Sorgen machen, können sie ihrerseits um ihre Honoraransprüche bangen (wo kommt das Honorar bei der finanziellen Schieflage des Angeklagten eigentlich her?).

    Offenbar haben die Verteidiger den Angeklagten auch nicht eindringlich genug gebeten, seinen Wohnsitz im Inland zu belassen bzw. ihn nach hier zurück zu verlegen. Wie blauäugig sind die denn? Da wurde wieder jemand in Grund und Boden verteidigt…

    • Ich beneide Sie um Ihre atemberaubenden mandats-internen Detailkenntnisse; Ihre Ex-Post-Optimierungsvorschläge sind genial. crh
  18. 18
    bambino says:

    Es sollte offenbar ein Exempel statuiert werden. Mein Mitleid mit Dr. TM hält sich aber trotzdem in Grenzen.

  19. 19
    Denny Crane says:

    @crh

    Verzeihung, war nicht ernst gemeint. Ironie funktioniert bekanntlich nie, schon gar nicht im Internet und ohne Emoticons. Tatsächlich gehe ich davon aus, daß die Verteidiger ihr Bestens getan und hervorragende Arbeit geleistet haben.

    Sehr wahrscheinlich hält weder der Haftbefehl dem Rechtsmittel stand noch die Verurteilung wegen Untreue vor dem BGH.

  20. 20
    Denny Crane says:

    @crh

    P.S.: Falls mein Kommentar (Nr. 17) mißverständlich war, bitte löschen. Ich wollte die Verteidiger nicht kritisieren. Steht mir mangels mandatsinternen Kenntnissen auch nicht zu.

  21. 21