Vor gut zehn Jahren war der Mandant in Neukölln unterwegs. Nachts. Mit einer Messingstange in der Hand. Und mit wirren Stimmen im Kopf.
Nachdem er – den Stimmen folgend – das Inventar der Eckkneipe zerlegt hatte, wurde in einem Sicherungsverfahren die Unterbringung in der Psychiatrie angeordnet.
Das sind Verfahren, die wünscht sich kein Verteidiger. Denn der Mandant ist der einzige, der die Ansicht vertritt, daß er wachen Geistes ist und alle anderen – der Verteidiger eingeschlossen – eigentlich in die Klapse müßten. Die Aufgabe des Verteidiger besteht dann in der Mitwirkung an seiner Einweisung (§ 63 StGB). Das tut der Verteidigerseele nicht gut.
Bereits nach relativ kurzer Zeit zeigte der Mandant allerdings erste Anzeichen einer Krankheitseinsicht, die Therapien hatten positive Wirkungen. Es folgten sukzessive weitere Fortschritte.
Knappe zehn Jahre später wurde die Unterbringung zur Bewährung ausgesetzt. Dem Mandanten wurden eine Bibliothek voll Auflagen gemacht. Unter anderem sollte er seine Medikamente nach Weisung seiner Behandler einnehmen. Und sich regelmäßigen Blut- und Urinkontrollen unterziehen.
Der Mandant bezog eine Wohnung und wurde an der langen Leine von Sozialarbeitern, Bewährungshelfern und Klinikpersonal gehalten. Das erste Jahr lief blendend, seine Gesundheit stabilisierte sich. Er nahm wieder am Leben teil.
Anfang März dieses Jahres verschlechterte sich sein Zustand und zwar ziemlich rapide. Diesmal war es keine Messingstange. Aber eine Haustür, ein paar Autospiegel und einige Polizeibeamte trugen Spuren davon, die nicht von einem bestimmungsgemäßen Einsatz zeugten.
Im Rahmen einer Krisenintervention (§ 67h StGB) wurde er wieder der Klinik überantwortet, die sich nun drei Monate lang darum bemüht, den Mann wieder auf die Füße zu stellen. Dann wird man weiter sehen.
Was war passiert?
Es waren einige Ursachen, die zusammen kamen, für die der Mandant nur sehr begrenzt verantwortlich war.
Die Klinik hat wegen knapper Personalressourcen die Frequenz der Kontrollen herabgesetzt: Blut und Urin wurden nur noch alle vier Wochen probiert.
Am Ende des Geldes war noch viel Monat übrig. Und für seine Medikamente, die er in der Apotheke bekam, mußte er eine Zuzahlung leisten, die er alsbald nicht mehr hatte.
Das Wirtschaften mit Geld gehört nicht zum Therapie- und Lernprogramm einer Psychiatrie. Und der Bewährungshelfer hatte auch reichlich andere Sachen zu tun, als sich wöchentlich mit dem Mandanten über das Geld zu unterhalten.
Der Mandant tat das Naheliegende: Er verschob den Einkauf und verzichtete folglich zeitweise auf die Einnahme seiner Medizin. Das fiel nicht auf, weil die Kontrollen eben nicht eng genug gesteckt waren. Jeweils kurz vor der nächsten Kontrolle kaufte er sich die Medikamente und die Behandlungspause blieb eine zu lange Zeit lang unentdeckt.
Es gibt eine weitere Ursache, die ebenfalls in diesem Kranken-Kassen-System begründet ist. Die Apotheken sind gehalten, die preislich günstigsten Tabletten an den Mann zu bringen, wenn sie denn die selben Wirkstoffe wie die verordneten Medikamente haben. Hört sich gut an. Ist in der Praxis aber brandgefährlich.
Psychiater wissen, daß nicht immer das drin ist, was drauf steht auf den Packungen. Und bei dem Zeug, was man den psychisch kranken Menschen verschreibt, kommt es auf jedes einzelne Molekül an. Fehlt eins, wird die Wirkung ganz oder teilweise verfehlt. Also schluckt der Mandant eine weniger wirksame, placedoide Medizin.
Zusätzlich gibt es noch die Nebenwirkungen (massive Gewichtszunahme, dösiger Kopf …) und ein wenig Übermut kommt auch noch hinzu (mir geht’s doch gut, warum soll ich das Zeug noch schlucken?) und Marihuana ist vereinzelt auch in Griffweite.
Und schon beginnt die wilde Fahrt in den Wahnsinn.
Das ließe sich verhindern. Wenn man die Kontrollen enger steckt, auf die Zuzahlungen verzichtet und die Tabletten ausgibt, die ihm der Arzt verschrieben hat. Wenn man dann noch die Sozialarbeiter anständig bezahlen würde, müßte mein Mandant jetzt nicht darum bangen, daß er weitere 10 Jahren in die Klapsmühle gesteckt wird.
__
Bild: Wolfgang Pfensig / pixelio.de
LiKo Hoenig,
ich möchte noch auf eine andere Seite hinweisen. Der verschreibende Arzt ist nach § 12 SGB V in der Pflicht das medizinisch Notwendige, aber wirtschaftlich preiswerteste Produkt zu verschreiben.
Wenn er dies nicht macht, so wird der Arzt von dem Prüfungsausschuss in Arzneimittelregress genommen. Gerade bei Psychopharmaka ist dies, wie ich erfahren durfte, ein teurer Spass für die Ärzte.
Ihren Ausführungen hinsichtlich der medizinischen Tragweite der Verschreibung anderer Pharmaka ist voll und ganz zu unterschreiben. Es geht hier um Patienten und nicht ums das schnöde Geld!
MfkG
@1: Ihr Kommentar ist unklar. Denn die Regelung erzwingt nicht wie suggeriert dann womöglich nicht die gewünschte Substanz sondern eine andere günstigere gegen die gleiche Erkrankung zu wählen. Weswegen das eher bedeutungslos ist was da steht.
Ärzte können jedoch bei der Medikamentenverschreibung durchaus den Pharmazeutiker anweisen, das verschriebene und kein Ersatzprodukt herauszugeben.
Wenn der Psychiater also weiß, dass es auf die genau verschriebene Pille ankommt wird er von dieser Möglichkeit auch gebrauch machen (sollte man meinen)
Der Doktor hat doch die Möglichkeit das „aut idem“ Feld anzukreuzen und damit dafür zu sorgen, dass der Patient genau das bekommt, was ihm verschrieben wurde.
Das scheinen die Ärzte nicht gerne zu tun, aber die Möglichkeit gibt es.
Ist richtig, somebody. Andererseits gibt es auch Apotheker, die offenbar noch nie „aut idem“ gehört haben, und nicht das Generikum auswählen, obwohl es günstiger wäre.
@ 4: „aut idem“ heißt: „oder dasselbe“, d. h. die Apotheke darf dem Patienten ein anderes Produkt mit denselben Wirkstoffen aushändigen. Da sie das aber offensichtlich ohnehin schon darf/muß, ist der aut-idem-Zusatz unnötig.
Nochmal kurz zur Klärung: Wie Rudi richtig schreibt, heisst „aut idem“ sinngemäß „oder ein gleiches“ (was dann aber eben nicht unbedingt zu 100% passt, da es manchmal nicht nur auf den reinen Wirkstoff sondern auch auf die sonstigen „Zutaten“ ankommen kann).
Früher war das ein Kästchen zum Ankreuzen, heute ist es vorgedruckt und muss explizit durchgestrichen werden, wenn exakt das Verschriebene ausgehändigt werden muss. Grund ist – natürlich – der Preis und damit die Kosten für die Kasse. Das wird in Zukunft auch noch weiter forciert werden – siehe z.B. http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/medikamente-aerzte-verschreiben-oft-zu-teure-arzneimittel-a-971796.html.
@Rudi, „aut idem“ muss nicht angekreuzt werden, damit ein Generikum genommen werden kann. Ganz im Gegenteil ist das der Normalfall und nur wenn „aut idem“ angekreuzt wird, muss genau das verschriebene Medikament genommen werden.
@bambino: genau andersrum. Lies mal kurz bei Wikipedia.de
@Senior, wir sagen dasselbe, ich sage „angekreuzt“, Sie sagen „durchgestrichen“. Ich habe es erlebt, wie bei „angekreuzt“ das teurere Medikament gegeben wurde. Der Wikipedia-Artikel zu aut idem ist diesbezüglich nicht erhellend, weil er ohnehin das schreibt, was ich meinte.
Mal kurz aus der Sicht eines Apothekers:
Ein Generikum entspricht von der Bioverfügbarkeit 80-125% des Originatorpräparats. Bei den meisten Arzneimitteln ist das ohne Belang. Ob das Aspirin oder das Antibiotikum um diesen Faktor abweicht, ist pharmazeutisch irrelevant.
Es gibt aber Arzneimittel, bei denen diese Abweichung medizinisch relevant ist. Die Wirkstoffgruppe der Neuroleptika gehört da dazu (neben Marcumar, Schilddrüsenhormonen, usw.) . Es ist auch relevant bei älteren, multimorbiden und/oder dementen Patienten, da diese enorme Probleme damit haben, wenn sie alle drei Monate eine neue Packung bekommen (Verwechslungsgefahr).
Nichtsdestotrotz sind wir seit einigen Jahren durch das SGB verpflichtet (!), nur noch das Arzneimittel abzugeben, mit welchem die Krankenkasse einen Rabattvertrag hat. Machen wir das nicht, zahlt die Kasse das Medikament komplett nicht und die Apotheke zahlt das Medikament komplett aus eigener Tasche, selbst wenn das Medikament nur 1 cent teuerer ist (das nennt sich Retaxation).
Ärzte werden genauso in Regress genommen: Wenn ein Arzt zu oft „aut idem“ ankreuzt, zahlt er die Medikamente seiner Patienten selbst.
Ärzte und Apotheker wehren sich seit Jahren gegen diese Praxis der Krankenkassen. Beispielsweise wurde vor einem Jahr von den Standesorganisationen der Apotheker den Kassen eine Liste mit Medikamenten vorgelegt, bei denen pharmazeutisch ein Austausch ethisch und pharmazeutisch nicht vertretbar ist. Die Krankenkassen schmetterten diese Liste gnadenlos ab. Das ist denen wirklich egal.
Das Problem ist: Außer uns Apothekern und den Ärzten interessiert das niemanden. Hauptsache es ist billig.
Vielleicht noch einen Satz, den die Zuzahlung betrifft:
Die Zuzahlungen sind ein notwendiges Übel. Einerseits ist es ja sinnvoll, dass ein Patient merkt, dass Medikamente wirklich richtig Geld kosten. Es gäbe nicht wenige Menschen, die sich ohne Zuzahlung Medikamente in der Apotheke mitnehmen würden und die Dinger daheim dann in die Tonne kloppen.
Schwierig wird es bei Rentnerinnen, die mit 500 Euro pro Monat haushalten müssen. Für die ist das richtig Geld.
Für den, den es betrifft, will ich auf folgendes hinweisen: Als chronisch kranke Person kann man sich von der Zuzahlung bei seiner Kasse befreien lassen, wenn man mit Zuzahlung und Arztgebühren 1% seines Bruttojahreseinkommens überschritten hat. Erfahrungsgemäß sehe ich die ersten Befreiungsbescheide in der Apotheke ab etwa Mitte Februar (was übrigens einen Rückschluss lässt, wie wenig manche Leute verdienen und wie viel Geld sie für ihre Medikamente, Hilfsmittel und Arztkosten ausgeben müssen).
Vielleicht wäre die Information auch für die betreffende Person hilfreich gewesen.
Sollte die betreffende Person Bezieher von ALG II sein, werden – meines Wissens nach – die Kosten für Medikamente sowieso nicht von den Kassen bezahlt sondern direkt vom Sozialamt. Sobald auf dem Rezept als Kostenträger das Sozialamt steht, wird keine Zuzahlung fällig. Das Sozialamt zahlt das Medikament der Apotheke komplett. Das Sozialamt hat auch keine Rabattverträge. Es gibt also genau das, was der Arzt verschrieben hat (insoweit sind also Sozialhilfeempfänger sogar gesetzlich Versicherten besser gestellt; bitte keine Neiddebatte zu diesem Satz!).
Was nochmal die Rabattverträge betrifft: Im Einzelfall (!) kann ich als approbierter Apotheker – selbst wenn der Arzt das Feld „aut idem“ nicht angekreuzt hat – „pharmazeutische Bedenken“ auf dem Rezept anmelden, mit meiner Unterschrift den Rabattvertrag für dieses Rezept außer Kraft setzen und damit der Person exakt das Arzneimittel abgeben, welches diese Person kennt und braucht.
Das System ist nicht perfekt. Aber es gibt schon Mittel und Wege legal solchen Leuten zu helfen. Notfalls kann man auch mal in seiner Stammapotheke nachfragen, ob die einem die Zuzahlung mal stunden. Das geht aber wahrscheinlich weniger in Berlin, noch weniger in einer Apotheke in einem „Problembezirk“, weniger über den Versandhandel, sondern eher in einer ländlichen Apotheke.
Mir scheint, dass hier wirklich verdammt viel schief gelaufen sein muss.
Tja, die nächste Fortbildung für Herrn Hoenig betrifft also Sozialrecht… Hilft seinem Mandanten aus der Story leider nicht mehr.
Aber so läuft’s, wenn sich ein Spezialist als Generalist versucht.
[…] systembedingten Wahnsinn in Neukölln, […]