Kann ein Suizidversuch eigentlich strafbar sein? Wenn man dem Urteil des Amtsgericht München vom 27.06.2014 – 122 C 4607/14 – folgen möchte, dann kann sowas durchaus eine Geld- oder Freiheitsstrafe nach sich ziehen.
Folgender Fall lag der Entscheidung zugrunde:
Eine 23-jährige Frau warf sich vor die S-Bahn. Dadurch kam es zu einem Unfall, den die Frau überlebte. Die Triebwagenführerin erlitt aufgrund dieses Erlebnisses einen erheblichen psychischen Schock und leidet seitdem an einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Das reichte der Zivilrichterin für einen Schadensersatzanspruch der Lokführerin gegen die Lebensmüde. Dazu heißt es in der Pressemitteilung 20/15 vom 24. April 2015:
Das Gericht stellt fest, dass die Beklagte durch ihren Suizidversuch bei der Klägerin eine Körperverletzung verursacht hat. Die psychische Fehlverarbeitung des Unfalls durch die Zugführerin sei eine ganz typische Reaktion auf Unfälle dieser Art und durch das Ereignis ausgelöst. Für die Beklagte sei vorhersehbar und erkennbar gewesen, dass sie bei dem Sprung vor den einfahrenden Zug bei dem Zugführer einen psychischen Schaden verursacht.
Diese Feststellung begründet obendrein zumindest einen Anfangsverdacht, der für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ausreichen sollte; denn eine zivilrechtliche Körperverletzung hat sehr große Ähnlichkeit mit einer strafrechtlichen.
Mich würde es nicht überraschen, wenn irgendein bayerischer Staatsanwalt nun auf die Idee käme (gekommen ist?), und tatsächlich auf einen roten Akten-Deckel den Namen der Überlebenden schreibt. § 229 StGB – die fahrlässige Körperverletzung – wäre sicherlich eine Option für die Strafverfolgung; aber warum eigentlich dann nicht gleich auch – billigend in Kauf nehmen – den Vorsatz unterstellen, § 223 StGB? Und hinterlistig ist so ein Sprung vor eine S-Bahn bestimmt auch, § 224 I Nr. 3 StGB. Für die Verkehrsstrafrechtler ist auch noch etwas dabei: §§ 315, 315a StGB. Da ist sicher noch einiges zu machen …
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Bild: „S Bahn Muenchen“ von Usien
Was ohne Zweifel ist, ist, dass die Lebensmüde vorher wusste, was geschehen würde und es in Kauf genommen hat.
Meines Erachtens sollte die Person eingewiesen werden und schuldunfähig sein. Durch die Einweisung hat sie Heilungschancen und die Gesellschaft wird geschützt.
Da die Schuldunfähigkeit aber offenbar nicht festgestellt wurde ist der logische und daher richtige Schluss sie zu bestrafen.
„Für die Beklagte sei vorhersehbar und erkennbar gewesen, dass sie bei dem Sprung vor den einfahrenden Zug bei dem Zugführer einen psychischen Schaden verursacht.“ Das ist nunmal so. Dagegen kann man nicht argumentieren.
Das mag ja jetzt komisch klingen, bei allem Verständnis für den versuchten Freitod, aber wer aus dem Leben scheiden möchte, soll das gefälligst ohne Fremdgefährdung tun, und wer es mit Fremdgefährdung, oder wie hier sogar mit Körperverletzung (die ich in dieser Konstellation durchaus für strafwürdig halte), tut, der sollte für sein Verhalten auch verantworten müssen. Natürlich sollte die Beklagte auch Hilfe bekommen um die Probleme die sie in den Freitod treiben angehen zu können und trotzdem ist Strafe hier nicht völlig unangemessen und die Beklagte sollte lieber froh sein nicht direkt in der bayerischen Psychatrie zu verschwinden…
Strafrechtler würden vermutlich sowieso an §§ 315 f StGB denken…
Allerdings müsste man wohl noch ermitteln, wo es um die Psyche der Person stand, §§ 20, 21 StGB. Viel von der Strafe dürfte – wenn überhaupt eine in Betracht kommt – nicht rauskommen..
Also bei naiver Lektüre des Gesetzestextes (und bitte verzeihen Sie mir, dass ich am Sonntag morgen für einen mich nicht persönlich betreffenden Fall nicht gleich zum Kommentar greife) liest sich § 315 Abs. 3 Nr. 1a StGB so dermaßen einschlägig, dass mit spontan keine naheliegende Argumentation einfällt, wie man ihn wegdiskutieren könnte.
Und damit wären wir sogar bei einem Verbrechenstatbestand…
Quelle: MüKo § 315 Rdz 91
Schönes Wochenende! crh
@Ein Ermittlungsrichter:
Die Frage ist, ob jemand der gerade einen Selbstmordversuch begeht, überhaupt delikts-/schuldfähig ist. Dabei hätte ich erheblich Zweifelt, ob die in dieser Situation gegeben ist. Laut der Pressemitteilung wurde die Deliktsunfähigkeit im Zivilprozess allerdings nicht genügend nachgewiesen.
@ Ein Ermittlungsrichter:
(auch bei mir nach naiver Lektüre des Gesetzestextes ;) )
Dem § 315 StGB würde ich so lange widersprechen, bis man eine Gefährdung des Leibs (oder des Lebens!) der Lokführerin nachweist. Bis dahin würde ich mich auf den Wortlaut berufen und behaupten, dass ein (rein) psychischer Schaden nicht vom Tatbestandsmerkmal „Leib“ umfasst ist.
Das selbe Argument würde ich auch gegen einen § 223 StGB anbringen: Psychische Schäden werden erst strafbar, wenn sie (physische) Auswirkungen auf den Körper haben.
Bei vielen Selbstmörder/innen spricht man heute ja ohne jede Prüfung gleich von Selbstmordattentätern. Ganz ohne ein „mutmaßlich“ davor.
@ Ermittlungsrichter
Angesichts der Masse der S-Bahn, ist eine Person die sich vor den Zug wirft, kaum geeignet einen Unglücksfall herbeizuführen. Ein Unglücksfall ist ein plötzlich eintretendes Ereignis welches geeignet ist, eine erhebliche (!) Gefahr für Menschen und Sachen hervorzurufen. Viel eher wird der Suizident von der Bahn überrollt. Ernsthafte Folgen, außer dem psychischen Schaden, sind kaum zu erwarten.
Anders wäre es, wenn man einen großen Betonklotz auf den Gleisen befestigen würde oder einen Eingriff am Gleiskörper durchführt.
Abgesehen davon ist die Definition der h.M. zu weit, ein Unglücksfall ist ein erheblicher Unfall oder eine Katastrophe, also eine Situation in dem ein Schaden für eine Vielzahl von Menschen oder Sachen eingetreten ist. Eine Gefahr ist vom möglichen Wortsinn als als äußerste Grenze nicht mehr gedeckt und verstößt gg. Art. 103 II GG. Dagegen spricht auch der sytematische Zusammenhang zur gemeinen Gefahr in § 323c StGB. Wo es gerade noch einmal gut gegangen ist, wird man nur seltenst Hilfe benötigen.
Die Frage ist allerdings: Welchen Zweck erfüllt eine Strafe, die beim Täter bei Begehung der Tat regelmäßig völlig ausgeschlossen wird?
Das Urteil ist eine weitere groteske Folge der Psycho-Pseudowissenschaft. Jedes sich-irgendwie-nicht-toll-fühlen wird als Krankheit diagnostiziert. Ich bin mir sicher, wenn ich heute zu einem dieser Psychologen/Psychiater [edit. crh] gehen würde und nur lang genug rumjammern würde, würde er schon irgendwas diagnostizieren.
Bin gespannt ob Leute, die einen Autobahnunfall mit Personenschaden verursachen und dabei überleben, demnächst von Gaffern verklagt werden, weil letztere den Anblick für schockierend halten. Oder, ums gleich rund zu machen, die Bildzeitung mit ihren bisweiligen Schocker-Aufmachern könnte man doch auch mal verklagen.
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Die Frau, die sich umbringen wollte, die hatte und hat ein Problem. Die Zugführerin ist hingegen so dermaßen ins sich selbst verliebt, dass man sich nur wundern kann, dass eine Amtsrichterin da folgen möchte.
Moin
@moe
Schon mal in einem BUS/S-Bahn gestanden, der eine Gefahrenbremsung machen musste?
Bei der Einfahrt in einen Bahnhof kannst Du davon ausgehen, das sehr viele Menschen stehen.
Sowas geht bei den Fahrgästen dann eher selten ohne Verletzungen ab.
@Roland B.
Es geht hier um eine versuchte Selbsstötung (Suizid).
Selbstmord ist die Kombination aus Selbsttötung mit dem ZIel andere Menschen dabei zu ermorden.
Wird ugs. leider häufig faslch verwendet.
Ich pflege zu sagen, es gibt nur zwei Dinge, bei denen nur der Versuch „bestraft“ wird, aber nicht die erfolgreiche Durchführung: Suizid und Revolution.
„Die Zugführerin ist hingegen so dermaßen ins sich selbst verliebt“ – Fry, Sie haben keine Ahnung, was eine PTB ist und Sie haben sicher auch noch nie mit einem betroffenen Lokführer gesprochen, oder?
Vielleicht diesen Artikel lesen:
http://www.sueddeutsche.de/muenchen/lokfuehrer-traumatisiert-die-leere-nach-dem-aufprall-1.277980
LG
P
@crh: Ja, da dürften Sie wohl recht haben. Bleibt also „nur“ der Grundtatbestand, der mit einer Mindeststrafandrohung von 6 Monaten auch noch knackig genug ist (wenn auch immerhin Einstellungen nach Ermessensvorschriften grundsätzlich zugänglich…).
Übrigens: Ich habe noch etwas in meinem Gedächtnis gekramt, weil mir die Konstellation dunkel bekannt vorgekommen ist. Tatsächlich ist vor einigen Jahren schon einmal ein ähnlicher Fall durch die Presse gegangen: http://www.sueddeutsche.de/bayern/praezedenzfall-vor-landgericht-nuernberg-traumatisierter-lokfuehrer-bekommt-schmerzensgeld-1.1145887
> Welches Mordmerkmal ist beim Selbstmörder eigentlich erfüllt? crh
Heimtücke. Ganz eindeutig.
Efraim Langstrumpf
@crh / Ermittlungsrichter:
Die „Absicht“ in § 315 Abs. 3 Nr. 1 StGB setzt dolus directus 1. Grades voraus (Zieschang in Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, § 315 Rn. 65; Fischer, § 315 Rn. 22 mit Verweis auf § 15 Rn. 6).
Bei der hier vorliegenden Fallkonstellation dürfe der Täter *alleinfalls* dolus directus 2. Grades hinsichtlich des Unglücksfalls haben (wobei ich da auch schon meine Zweifel habe).
@Fry
Es erscheint mir derart hanebüchen abwegig, an dieser Stelle der ZUGFÜHRERIN einen Vorwurf zu machen, dass ich ernsthaft in Frage stelle, ob Sie aufrichtig diskutieren. Ich stelle in den Raum, dass Sie lediglich Schwierigkeiten haben, die Psychologie als medizinische Disziplin zu akzeptieren.
[Edit. Bitte bleiben Sie sachlich. crh]
Nach dem Lesen ihres Kommentars gebe ich Ihnen in Ihrem selbstreferentiellen Gedanke „wenn ich heute zu einem dieser Psychologen/Psychiater [edit. crh] gehen würde und nur lang genug rumjammern würde, würde er schon irgendwas diagnostizieren“ durchaus recht.
Ich glaube, so viel brauchen Sie gar nicht zu erzählen. Ihre Aussage „selbst verliebte Zugführerin“ lässt ohne weitere Worte schon recht tief blicken, aber mit ner Pille wird man Ihnen wohl nicht helfen können…
Gefreiter Asch
mein Kommentar bezog sich natürlich auf den Kommentar @Frey
Sorry, nicht dass sich jemand Anderer angesprochen fühlt.
Gefreiter Asch
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