Weniger Schmerzensgeld bei fehlender Schutzkleidung.
Uneinsichtige Gurt- und Helmmuffel versuchen die Herrschaften von der Rennleitung mithilfe von Buß- und Verwarnungsgeldern zur Raison zu bringen. Auch in Hinblick auf die Schadenersatz- und Schmerzengeldansprüche hat dieser Menschenschlag Einnahmeverluste hinzunehmen. Doch wie sieht es aus im folgenden Fall:
Unmittelbar nach dem Aufwachen fällt Wilhelm Brause ein, daß ihm das zweit- und drittwichtigste in seinem Leben fehlt: Tabak und Kaffee. Noch völlig im Tran greift er nach seinem Jethelm, steigt auf die V-Max und brezzelt los zur nahegelegenen Tankstelle. Für die kurze Strecke in die Kombi? Vergiß es! Boxershorts und Muscleshirt reichen ebenso wie die Badelatschen. Es gelingt Wilhelm, trotz Nikotin- und Koffeinentzug heil an der Tankstelle anzukommen, bezahlt wird – wie im Werbefernsehen – mit der Karte, nur nicht so lasziv. Ein kurzer small talk mit dem Tankwart, dann schlurft Brause noch rauchend zum Mopped. Er genießt die frische Luft auf der Haut und tuckert gemütlich vor sich hin, als von links Bulli Bullmann mit seinem 30 Tonner auf die Hauptstraße einbiegt. Durch die überlange Nachtfahrt völlig übermüdet, sieht Bullmann den vorfahrtsberechtigten Moppedfahrer nicht. Brause gelingt es so eben gerade, einen Zusammenstoß mit dem Truck zu verhindern, überbremst aber dabei das Vorderrad und rutscht auf seinem eigenen Hinterteil hinter der V-Max her und knapp am LKW vorbei. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: In der Poliklink, wo man ihm den Splitt aus dem Gesäß operiert, beide Knie- und beide Ellenbogengelenke ruhigstellt sowie diverse andere Blessuren an Händen und Füßen verarztet. Die Tränen sind noch nicht ganz getrocknet, als Brause auch nach Verdienstausfall, Ersatz der von ihm zutragenden Heilungskosten und Schmerzensgeld von Bullmanns Haftpflichtversicherer schreit.
Was muß gezahlt werden? Hinsichtlich des Sachschadens an Mopped, Kaffee und Badelatschen gibt’s keine Probleme. Schwierigkeiten macht der Versicherer wegen der Personenschäden sowie wegen der daraus resultierenden Folgeschäden. Hätte Wilhelm die empfohlene Schutzkleidung getragen, wäre ihm mit großer Wahrscheinlichkeit nichts passiert, argumentiert der Regulierer. Für Brause stellt sich die Frage, ob er nun vollen Anspruch, keinen Anspruch oder wegen Mitverschuldens nur einen Teilanspruch durchsetzen kann. Zunächst einmal ist festzuhalten, daß Wilhelm sich absolut im Einklang mit gesetztem Recht befunden hat. (Noch) gibt es keine Norm, die – außer den Helm – Schutzkleidung obligatorisch vorschreibt. Dementsprechend hat er also keinen Verstoß gegen normierte Sorgfaltspflichten begangen.
Oder doch? Das Amtsgericht Hannover hat schon am 15.2.97 entschieden: „Hat ein Motorradfahrer bei einem Verkehrsunfall Riß- und Schürfwunden erlitten, weil er keine Schutzkleidung und Schutzschuhe getragen hat, so sind die Riß- und Schürfwunden bei der Bemessung des Schmerzensgeldes nicht zu berücksichtigen.“ Klarer Fall, könnte man meinen. Doch möge man sich andererseits folgenden Satz einmal durch den Kopf gehen lassen: „Einem Kraftfahrzeuginsassen, dessen Unfallverletzungen durch die Benutzung des Sicherheitsgurtes vermieden oder vermindert worden wären, kann das Nichtangurten nur dann nicht […] als Mitverschulden angelastet werden, wenn für ihn […] keine Gurtanlegepflicht bestand.“ meinte der BGH am 29.9.92. Oder diesen: „Einem Taxifahrer, der einen Fahrgast befördert und deswegen nicht angegurtet ist, kann zivilrechtlich ein Mitverschulden nicht entgegengehalten werden.“ attestiert das AG Köln am 30.3.1990.
Überträgt man die BGH- und die AG-Entscheidungen auf Brauses Fall, könnte man eigentlich zum Ergebnis kommen, daß eine Mithaftung Brauses nicht in Betracht kommt, da eine (gesetzliche) Pflicht zum Tragen von Schutzkleidung nicht besteht, genauso wie für die beiden verletzten Autofahrer keine Anschnallpflicht bestand. Dem ist allerdings nicht so. Denn beide Fälle unterscheiden sich in einem maßgeblichen Punkt von dem Brause-Fall: Grundsätzlich bestand/besteht eine – gesetzliche – Verpflichtung zum Anschnallen; aber ausnahmsweise waren die Verletzten ausdrücklich von dieser Pflicht befreit: Im BGH-Fall gestattete der Gesetzgeber der Frau aus gesundheitlichen Gründen, im AG-Fall der Taxifahrer aus Eigensicherungsgründen den Gurt nicht zu tragen. Für Motorradfahrer besteht zwar keine grundsätzliche Pflicht zum Tragen von Schutzkleidung, aber es gibt auch keinen Rechtssatz, der sagt, sie können auf diesen Schutz verzichten1.
Zusammengefaßt bedeutet dies, daß Brause in dem oben stehenden Fall eine Mitverschuldensqoute an seinen Verletzungen und den daraus resultierenden Folgeschäden zu tragen haben wird. Die Höhe der Quote dürfte bei 1/3 bis zu 1/2 des Gesamtschadens liegen. Nur wenn Brause nachweisen kann, daß er aus gesundheitlichen Gründen – zum Beispiel wegen einer Protektorenallergie ;-) – keine Schutzkleidung tragen konnte, könnte er Erfolg haben. Es gibt eigentlich keinen – vernünftigen (!) – Grund, auf das Tragen von Schutzkleidung zu verzichten, auch nicht auf Kurzstrecken und auch nicht für Rollerfahrer.
Gönnen wir uns also wenigstens ein Mindestmaß an Knautschzone, wenn wir auf’s Moped steigen, und sei es nur, um im Falle eines Falles ein höheres Schmerzengeld erstreiten zu können.
1 Das ist die hohe Kunst juristischer Argumentation ;-)