76 Euro für einen Tag Haft

Bei einem Banküberfall im Jahre 1991 hatte eine automatische Überwachungskamera mehrere Lichtbilder des Täters gefertigt, die später zur Festnahme des Klägers führten.

Im Rahmen des gegen ihn eingeleiteten Ermittlungsverfahrens wurde der Beklagte als Sachverständiger beauftragt, ein anthropologisches Vergleichsgutachten zu erstellen. Dabei waren die von der automatischen Überwachungskamera der Bank angefertigten Fotos sowie von dem Sachverständigen angefertigte Vergleichsbilder von dem Kläger auf ihre Übereinstimmung zu untersuchen.

Der Beklagte kam zu dem Ergebnis, dass der Kläger „mit sehr großer Wahrscheinlichkeit“ mit der Person auf den Täterbildern identisch sei. In der Strafverhandlung hatte er sich sogar dahingehend geäußert, dass für ihn an der Täterschaft des Klägers keinerlei Zweifel bestünden. Nach seiner Berufserfahrung sei es unvorstellbar, dass eine andere Person als Täter in Betracht komme. Aufgrund dieses Gutachtens wurde der Kläger wegen des Überfalls auf die Sparkasse zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt.

Kurz nach seiner Haftentlassung wurde die Tat jedoch von dem wirklichen Täter gestanden, der mittlerweile auch rechtskräftig verurteilt worden ist.

Quelle: Pressemeldung des Oberlandesgericht Frankfurt am Main

Insgesamt hat der Mann 1973 lange Tage unschuldig im Knast verbracht, das sind rund 280 Wochen, 65 Monate oder deutlich über fünf Jahre. Dafür hält das OLG 150.000 Euro Schmerzensgeld für angemessen.

Ich glaube, da wird auch der (ehemalige) Verteidiger des Verurteilten nachdenklich werden, ob ihm da nicht ein paar Fehler unterlaufen sein könnten. Es gehört zu den schwierigsten Aufgaben im Rahmen einer Verteidigung, ein Gericht davon zu überzeugen, daß ein Sachverständigengutachten falsch ist und nicht zur Grundlage einer Verurteilung gemacht werden darf. Es ist für ein Gericht sehr bequem, sich in den Gründen für eine Verurteilung auf die „überzeugenden“ Ausführungen des Sachverständigen zu beziehen. Oftmals hatte ich den Eindruck, nicht das Gericht entscheidet das Verfahren, sondern der Gutachter. Es ist zu hoffen, daß sich der Verteidiger darüber Gedanken gemacht hat.

Und wie wird sich nun das Gericht fühlen, das den Mann unschuldig in den Knast geschickt hat? Warum hat das Gericht nicht erkannt,

dass das Gutachten grob fahrlässig fehlerhaft erstattet wurde. Zwar sei das schriftliche Gutachten noch nicht grob fehlerhaft. Eine grob fahrlässige Fehlerhaftigkeit der Begutachtung folge jedoch aus den Äußerungen des Sachverständigen in der Hauptverhandlung vor der Strafkammer, weil er dort nicht mehr nur eine „sehr hohe Wahrscheinlichkeit“ der Täterschaft, sondern das Bild einer von Restzweifeln befreiten Sicherheit vermittelt habe.

Die Darstellung seines Identifikationsergebnisses in der Hauptverhandlung habe die erforderliche Differenzierung und Erläuterung der Wahrscheinlichkeitsprädikate vermissen lassen und die Darstellung gegebener Zweifel zu Ausschlussmerkmalen verabsäumt. Wenn aber Zweifel angezeigt seien, müsse der Gutachter diese Zweifel auch deutlich machen. Stattdessen habe der Sachverständige jegliche Zurückhaltung aufgegeben und eine nahezu 100%ige Wahrscheinlichkeit der Täteridentität assistiert. Der Beklagte habe somit naheliegende und von dem wissenschaftlichen Standard gebotene Überlegungen nicht beachtet. Dieser Fehlerhaftigkeit komme objektiv ein besonderes Gewicht zu, da vom Ergebnis des Vergleichsgutachtens entscheidend abhing, ob der Kläger eine mehrjährige Freiheitsstrafe zu verbüßen hat. Es sei eine wichtige Aufgabe des Sachverständigen, die Grenzen der anthropologisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse deutlich zu machen.

Schadenersatz auch von den Richtern, die den Mann verurteilt hat?

Update:
Bei Wikipedia gibt es ergänzende Informationen.
Und die Hessenschau berichtet auch über den Fall.

Dieser Beitrag wurde unter Gericht, Justiz, Strafrecht, Verteidigung veröffentlicht.

9 Antworten auf 76 Euro für einen Tag Haft

  1. 1

    Ich kann nur hoffen, dass ich auf einen vergleichbaren Richter stoße, denn nur aufgrund meiner Hartnäckigkeit stellte der leitende Oberstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft Tübingen Monate nach Einstellung des Verfahrens gegen mich fest, dass man es (natürlich vollkommen unabsichtlich) versäumt hatte, mich auf das Strafverfolgungsentschädigungsgesetz hinzuweisen (verständlich denn das Verfahren hat auch meine öffentlich geförderte Firma vernichtet). Da die Behörden mit allen juristischen Tricks zu verhindern versuchen, dass irgend etwas davon verhandelt wird habe ich mich ein Jahr nach dem auslösenden Ereignis entschlossen die Beweise für die Fehler und deren Vertuschung unter http://k-d-e.info öffentlich zu publizieren. In Moment liegt alles bei der Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart und wenn auch sie sich weigert zu verhandeln endet das Ganze letztlich in einigen Punkten beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, denn irgend wann zahlt sich Hartnäckigkeit aus, wie auch dieser Fall hier bewiesen hat auch wenn ich hoffe, dass ich keine 8 Jahre brauche.

  2. 2

    Vielleicht würden die Entschädigungen etwas anders ausfallen, wenn der Geschädigte entscheiden könnte, dass dem Richter für die gleiche Entschädigung das gleiche angetan wird? Wäre ja kein Problem, denn er wird ja angemessen entschädigt.
    Entschädigungen, die nicht reine Vermögensschäden betreffen, müssten so bemessen werde, dass sich der Geschädigte für den Betrag den Schaden hätte freiwillig zufügen lassen.
    Für welchen Betrag würde jemand für acht Jahre ins Gefängnis gehen? Für welchen Betrag würde sich jemand ein Auge entfernen lassen?
    Heute führen Entschädigungen eher zu einer Endschädigung.

  3. 3
    Bernie says:

    150.000 Euro sind in der Tat sehr wenig für 5 Jahre.

  4. 4
    R. says:

    Die Hessenschau (s.o.) lädt wirklich interessante Fachleute als Interviewpartner zu diesem Thema:

    Dr. Peter Niehenke, dessen eigene Gerichtserfahrung wohl zu einem sehr bedeutenden Teil durch die Verfahren wegen seiner Nackt-Lauf-Tätigkeit in Freiburg und anderen Städten entstanden ist ;-)

    http://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Niehenke

  5. 5

    Nicht der erste „Fehlschuss“ dieses Herren Gutachters, wie der WDR schon 2001 berichtete. Bekannt ist auch, dass der Gutachter einmal für die ZDF-Sendung „Wetten, dass…?“ getestet wurde. Da er allerdings bei 10 Identifizierungen 7 Fehler machte, kam er nicht in die Sendung.

    … und wohl auch nicht der letzte, denn trotzdem wird der Gutachter nach wie vor gerne von Gerichten beschäftigt. So hatte ich auch schon selbst das Vergnügen, ihn in Aktion zu erleben, wo er in einer Owi-Sache nach Aktenlage (!) den Mandanten identifiziert hatte, in der Hauptverhandlung dann aber meinte, er sei nicht der Täter auf dem Beweisfoto (Irrtum!).

    Kleine Anekdote am Rande: Zuvor hatte das Gericht im Hinblick auf die zu erwartenden hohen Kosten des Sachverständigen angeregt, den Einspruch gegen den Bußgeldbescheid zurückzunehmen. Im Ergebnis hat die Veranstaltung dann den Staat einen deutlich vierstelligen DM-Betrag gekostet.

  6. 6
    doppelfish says:

    Pro Jahr gibt’s stolze 4015 Euro Haftentschädigung, rechnet RA Vetter vor. Das sind 11 Euro pro Tag, also 20075 Euro für fünf Jahre. Doch so viel.

  7. 7

    Die 11 / 20.075 Euro ist die gesetzlich vorgesehene Haftentschädigung. § 7 StrEG ist die Grundlage dafür. Das Geld bekommt er vom Land, es richtet sich nach öffentlichem Recht.

    Die 150.000 Euro ist das Schmerzensgeld, die er (hoffentlich) zusätzlich bekommt. Vom Sachverständigen, wenn er nicht pleite ist und keine Versicherung des Schaden reguliert. Das ist Zivilrecht und in § 253 BGB geregelt.

  8. 8
  9. 9
    nadar says:

    Bei Wikipedia ist zu lesen, dass Stellwag Ende 2010 erneut angeklagt wurde – wegen Beteiligung an einem Überfall auf einen Goldtransporter.