Der Mandant wurde im August verurteilt zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. Nun bekommt er eine Anklage zugestellt, die ihm eine weitere Tat zur Last legt, für die das Gesetz eine Mindestfreiheitsstrafe von 6 Monaten vorsieht.
Wenn der Mandant nun auch wegen der zweiten Tat verurteilt würde, müßte eine Gesamtstrafe aus der neuen und der alten Verurteilung gebildet werden. Eine Strafaussetzung zur Bewährung kommt allerdings nur dann in Betracht, wenn die Dauer der Strafe nicht zwei Jahre übersteigt. Der Spielraum in dieser Sache liegt also bei zwei Monaten. Das ist mehr als nur knapp.
Ich bin gespannt, ob das Gericht und die Staatsanwaltschaft mit sich reden lassen. Der Mandant spricht kein Deutsch, die 36 Zeugen der neuen Anklageschrift auch nicht. Zudem liegen die Wohnorte der Zeugen etwa 2.000 km von Berlin entfernt. Verhandlungsmasse ist also vorhanden.
Wie denkt man da als Anwalt?
Überlegt man sich, ob man bei der ersten Verurteilung eine kürzere Strafe auf Bewährung herausholen hätte können? Oder sagt man sich meist bei solchen Verhandlungen „na ja, egal ob 1 Jahr und 10 Monate Gefängnis oder 1 Jahr und 9 Monate … Hauptsache auf Bewährung“?
Ist eine ernst gemeinte Frage.
Da beide Taten zeitlich dicht beieinander lagen, hätte die grundsätzliche Chance bestanden, *beide* bei der ersten Verteidigung abhandeln zu können. Warum das unterblieben ist, weiß ich nicht (ich habe im ersten Fall nicht verteidigt).
Warum nun seinerzeit 1/10 und nicht 1/9 oder gar 1/6 dabei herausgekommen war, kann ich ebenso wenig nachvollziehen. Ich war nicht dabei. Deswegen kann ich auch nicht sagen, daß ich es vielleicht „besser hinbekommen“ hätte.
Im übrigen sollte der Verteidiger um jeden halben Tag Freiheitsstrafe kämpfen, auch wenn die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird. Man weiß nie, wie sich die Sache bzw. der Mandant über die Jahre entwickeln wird.