Schuldfähig! Trotz Haarspray.

Dem Richter am Amtsgericht mußte bekannt sein, daß der Angeklagte ein psychiatrisches Problem hat.

Über 10 Vorstrafen, zumeist wegen Diebstahls geringwertiger Sachen und anderer kleineren Delikte. Ihm wurde ein Berufsbetreuer zur Seite gestellt. Nun wurde dem Angeklagte erneut ein Strafvorwurf gemacht: Wegen Diebstahls einer Dose Haarspray. Im Wert von 1,95 Euro. Der Richter verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe. In den Gründen schreibt der Richter unter anderem:

Am 20. November 200* gegen 12.40 Uhr nahm der Angeklagte, der zuvor ca. eine Flasche Wein und zwei Bier getrunken und außerdem Haarspray geschnüffelt hatte, in den Geschäftsräumen der Firma ***-Markt in Berlin-Moabit ein Haarspray zum Verkaufspreis von 1,95 Euro aus einem Warenträger und steckte die Ware in seinen Hosenbund unter sein Oberteil, um sie ohne Bezahlung für sich zu behalten.

Der Kundige weiß spätestens an dieser Stelle, daß der Angeklagte die Dose Haarspray nicht zur Frisurenpflege geklaut hat, sondern weil er sie zur Linderung seiner Sucht benötigte. Der Richter sah es anders:

Da weder Zeugen noch der Angeklagte selbst über Ausfallerscheinungen zur Tatzeit berichteten, hatte das Gericht keinen Grund, eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 5tGB anzunehmen.

Volle strafrechtliche Verantwortlichkeit und ab mit dem Mann in den Knast. So hatte es sich der Richter gedacht. Der Betreuer des Angeklagten beauftragte daraufhin einen Verteidiger, der ein Rechtsmittel eingelegt und eine psychiatrische Begutachtung angeregt hat. Es wurde noch vor der Berufungsverhandlung ein solches Sachverständigengutachten eingeholt. Darin heißt es (auf Seite 38 von 41) nun:

Zur Krankheitsvorgeschichte war zu erfahren, dass es seit seinem zwölften Lebensjahr wiederholt Selbstverletzungen und Suizidversuche mit stationären Aufenthalten gegeben habe. Wegen Störung des Sozialverhaltens und Persönlichkeitsstörung wurde Herr *** erstmals 1996 in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Klinikum *** behandelt. Die selbstverletzenden Handlungen seien jeweils zum Spannungsabbau erfolgt.

Seit dem zwölften Lebensjahr besteht ein Alkoholabusus, bereits im Alter von sechzehn Jahren seien vegetative Entzugserscheinungen aufgetreten. Im Alter von achtzehn/neunzehn Jahren habe er einen Entzugskrampfanfall gehabt, im Jahr 2007 einen deliranten Zustand. Seit seinem vierzehnten Lebensjahr konsumiere er Cannabis in Abständen von ein bis zwei Wochen. Seit dem neunzehnten Lebensjahr konsumiere er in größeren Abständen Amphetamine. Im Vordergrund des Substanzabusus steht das Inhalieren von Treibgasen seit dem vierzehnten Lebensjahr. Seit dem siebzehnten Lebensjahr inhaliere er täglich vier bis fünf Flaschen Haarspray.

Der Psychiater kommt in seinem Gutachten zum Ergebnis, daß der Angeklagte unter einer massiven psychotischen Erkrankung leidet und daneben ein multiple Abhängigkeits-Symtomatik besteht.

Beim Diebstahl des Haarsprays könne davon ausgegangen werden, daß es dem Angeklagten an der Steuerungsfähigkeit (nicht vorhandene Impulskontrolle) mangelte. Glasklarre Schuldunfähigkeit heißt das im Klartext. Der Mann ist krank und gehört nicht in den Knast, sondern in eine Therapie.

Richter, die das nicht bereits in der Vorbereitung auf die erste Instanz sehen – oder zumindest ahnen -, sollten sich mit Grundbuchsachen beschäftigen. Beim Strafgericht sind sie fehl am Platz.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemeines (Kanzlei), Richter, Strafrecht veröffentlicht.

3 Antworten auf Schuldfähig! Trotz Haarspray.

  1. 1
    doppelfish says:

    Machte das Gutachten denn den Eindruck, daß (ausser dem Verteidiger des Angeklagten) noch irgendjemand auch nur zumindest mal flüchtig durch die Seiten geblättert hat?

  2. 2

    Das Gutachten war dann Gegenstand der Berufungsverhandlung. Das Urteil des Amtsgerichts wurde aufgehoben.

  3. 3
    doppelfish says:

    Das wundert mich nicht mehr. Immerhin.