Auf Augenhöhe

Morgens um 9 Uhr beim Schöffengericht:

Verteidiger:
Ich beantrage die Aussetzung des Verfahrens, weil mir die Gerichstakten bislang nicht vollständig vorgelegen haben. Von den vier Bänden habe ich erst einen einsehen können.

Richterin:
Den Antrag lehne ich ab. Es wird heute verhandelt! Mir wurden die Akten auch erst vor einer halben Stunde vorgelegt.

Anmerkung:
Gegen die Verhandlung auf Augenhöhe habe ich grundsätzlich nichts einzuwenden. Die Sichtlinie eines Dackelwelpen muß es aber nicht sein.

Dieser Beitrag wurde unter Richter veröffentlicht.

10 Antworten auf Auf Augenhöhe

  1. 1
    doppelfish says:

    Och, wenn das heisst, daß belastendes Material der anderen drei Bänden nicht berücksichtigt wird …

  2. 2
    ra_kuemmerle says:

    „Mir wurden die Akten auch erst vor einer halben Stunde vorgelegt.“ Das glaube ich alles nicht mehr. Eine Sache beim Schöffengericht ist mit Sicherheit kein Kinderkram und dann so etwas…

  3. 3
    RA says:

    Och, das hatte ich letztens in nem Schwurgerichtsverfahren. Dem Gericht, der StA und der Verteidigung fehlten 5 Bildmappen, alles Tatortfotos. Mir fehlten ca. 600 Seiten Akte.

    Auf meinen Aussetzungsantrag hin wurde das Verfahren 2 (!!!) Stunden unterbrochen und ich konnte mir alles durchlesen. Gut, oder?

  4. 4
    Gerti says:

    Die übliche Begründung: Das noch nicht bekannte Material sei doch so übersichtlich, daß man es innerhalb einer kurzen Pause, gleichsam „zwischen Tür und Angel“ sichten und ggf. mit dem Mandanten erörtern könne.

    Jeder Strafjurist weiß, daß entscheidende Ansatzpunkte oftmals erst beim zweiten oder dritten Durcharbeiten der Akte auffallen: sei es der unterlassene Strafantrag, der nichtunterschriebene Eröffnungsbeschluß, die unrichtige Besetzung der Gerichts, die Mängel der Anklageschrift, die Widersprüche in den Zeugenaussagen, die verbotene Beweisgewinnung, usw.

    Offen gestanden leuchtet mir die Motivation mancher Richter auch nicht ein, eine angesetzte Verhandlung um jeden Preis „durchziehen“ zu wollen. Warum kann man nicht einfach gelassen aussetzen oder vertagen? Ist doch schließlich keine Hochzeitsfeier, die da platzt. Und wenn man sich ohnehin nicht vorbereitet hat…

  5. 5
    RA JM says:

    Da bleibt wohl nur die Notbremse.

  6. 6
    Das Ich says:

    oder die andere Notbremse;-) http://dejure.org/gesetze/StGB/339.html

    Ob man sich damit dann Freunde macht steht auf ´nem anderen Blatt..

  7. 7
    Clara says:

    Unfassbar, das scheint fast Alltag zu sein…

  8. 8
    RA JM says:

    @ Das Ich: Die führt aber – anders als ein Befangenheitsantrag – nicht zu einem kurzfristigen Ende der Hauptverhandlung.

  9. 9
    doppelfish says:

    RA JM: Aber mittelfristig zum vermehrten Ausbleiben solcher Konstellationen (ein Minimum an Merkfähigkeit vorrausgesetzt).

  10. 10
    Das Ich says:

    Das stimmt, aber schon die Androhung lässt manchen Richter nochmals überlegen.