Der Biß ins Gewissen

In einer sehr umfangreichen Sache vor dem Amtsgericht – zahlreiche Anklageschriften, viele verbundene Verfahren, bereits jetzt schon über zehn Termine – bittet mich der Richter, die Abschriften meiner Anträge und Erklärungen, die ich vor knapp drei Monaten gestellt bzw. abgegeben und schriftlich zu Protokoll gereicht habe, ihm noch einmal zu übergeben. Die Originale seien verschwunden.

Daß sie verschwunden sind, wundert mich bei dem Akten-Chaos nicht. Aber soll ich das Gericht nun dabei unterstützen, ein revisionsfestes Urteil zu schreiben, das meinem Mandanten ganz bestimmt nicht gefallen wird?

Eine nicht ganz einfache Entscheidung …

Dieser Beitrag wurde unter Richter, Verteidigung veröffentlicht.

25 Antworten auf Der Biß ins Gewissen

  1. 1
    doppelfish says:

    Ein Bischen mehr Engagement, bitte! Bieten Sie doch an, gleich das Urteil zu schreiben.

  2. 2

    Die Frage ist doch, ob man das als Verteidiger überhaupt DARF. Es gibt nur ein Original. Das ist verschwunden. Die „Herstellung“ eines neuen Originals halte ich für mehr als bedenklich.

  3. 3
    Tom Paris says:

    Ein Dokument sei verloren gegangen? Das werten wir als „ebenso untaugliche wie hilflose Schutzbehauptung“! Einfach das Gericht mit den eigenen Waffen schlagen.

  4. 4
    Rudi says:

    schwierig, irgendwie ist man ja auch Organ der Rechtspflege…

  5. 5
    Das Ich says:

    Mandanten Fragen ob das OK ist, und ihn gleich über die Risiken aufklären. Dann sagt Mandant nein und das sagt man dann dem Richter.
    Oder einfach mal sagen, dass ihenen das Original leider auch verloren gegangen ist. Das wäre ja alles so schade etc ;-)

  6. 6
    Malte S. says:

    Andererseits könnte dann eine Abschrift der Schriftsätze noch in der StA-Handakte auftauchen und man hat den Richter verärgert – ob das hier eine Rolle spielt, wird crh wohl zu entscheiden haben.

  7. 7

    @Das Ich:
    Den ersten Vorschlag möchte ich unterschreiben. Wobei die Risiken auch darin bestehen, daß das Gericht das mangelnde Entgegenkommen an anderer Stelle quittiert.

    Der zweite Vorschlag bedeutet, der Verteidiger lügt für den Mandanten oder für wen auch immer. Und das geht gar nicht. Überhaupt nicht. Dafür kommt man in die Hölle.

  8. 8
    Tom Paris says:

    Wieso wäre das eine Lüge? Das Original ist Ihnen doch abhanden gekommen, indem sie es dem Gericht überreicht haben. Wie Frau Rueber schon gesagt hat: die Überreichung einer neuen Ausfertigung bedeutete das Herstellen eines zweiten „Originals“.

    Sie können allenfalls eine einfach Abschrift überreichen („Beglaubigte Abschrift“ geht auch nich, denn der Verteidiger, der nicht Notar ist, kann nichts selbst beglaubigen und auch in der ZPO ist die „beglaubigte Abschrift“ inzwischen abgeschafft – obwohl es jeder noch so macht).

  9. 9
    rawil says:

    Wenn es eine Strafmaßverteidigung ist, würde ich´s mir mit dem Richter nicht verscherzen. Wenn ein Freispruch im Raume steht, wäre das Nachreichen wohl ein Fehler, es sei denn, noch heute wäre der Inhalt der Schriftsätze nützlich. Falls es revisionsrelevant sein könnte: Ist denn nachweisbar, dass alle der Anträge und Erklärungen auch bei Gericht eingegangen sind?

  10. 10
    cledrera says:

    Das klingt danach, als ob man vor einer Entscheidung erst einmal Akteneinsicht nehmen müsste; natürlich in die vollständige Originalakte.
    Da Indizien für einen Verstoß gegen die Grundsätze der Aktenklarheit und Wahrheit gegeben sind, wäre damit auch ein Antrag auf Verfahrensausetzung bis Beendigung der „sorgsamen“ Überprüfung durch die Verteidigung; d.h. bis weit nach Weihnachten und Neujahr (2011).
    Gegebenenfalls erhält man sich so das Wohlwollen aller.

  11. 11
    RA Neldner says:

    Einfache Abschriften der eigenen Anträge zur Verfügung stellen, dürfte in der Regel in Ordnung sein. Die Anträge sollten ja den dem Mandanten dienen. Wenn sich nicht nachträglich das Gegenteil herausgestellt hat, schadet es zumindest nicht.
    Es gibt genug andere Gelegenheiten für Konfrontation mit dem Richter.

  12. 12
    der echte n.n. says:

    einen sinn kann ich in diesem verhalten eigentlich nur erkennen, wenn es sich um einen hilfbeweisantrag handelt und der richter sein urteil zwar mündlich begründet hat nun aber schwierigkeiten bei absetzung seiner urteilsgründe hat.
    in anderen konstellationen macht es einfach keinen sinn. entweder sind es bereits beschiedene anträge, die braucht der richter nicht mehr, er hat ja schon über sie befunden. und dem revisionsgericht muss man sie eh noch mal vorlegen.
    oder es handelt sich um noch nicht beschiedene anträge, da wird das olg in dem verzicht der erneuten stellung wohl eine rücknahme sehen. ;-)

  13. 13
    fernetpunker says:

    Wenn es um eigene Anträge des Verteidigers geht, wollte man doch dass sie in die Akte Eingang finden. Jetzt absichtlich Fehler zu provozieren, um sie in der Revision rügen zu können, dürfte nicht mit dem Status eines Anwalts als „Organ der Rechtspflege“ zu vereinbaren sein. So auch Udo Vetter.

  14. 14

    So auch Udo Vetter.

    Na, wenn Herr Vetter das sagt, muß es ja richtig sein. ;-)

  15. 15
    Zivilist says:

    @Tom Paris:
    Beglaubigte Abschriften sind nach ZPO weiterhin vorgesehen, soweit ein Schriftstück zugestellt werden muss, siehe § 169 II 2 ZPO.

  16. 16

    Mal unabhängig davon, dass es nicht Aufgabe eines Verteidigers ist, die Stimmung des Spruchkörpers nach Möglichkeit aufzuhellen, ist bislang noch kein einziges Argument gebracht worden, dass mich dazu veranlassen könnte, von meiner Position abzuweichen. Es IST bedenklich, die Anträge nochmal zu überreichen. Soviel Professionalität sollte man dem Richter schon zubilligen, dass er mit einer Weigerung des Verteidigers zurecht kommt – gute Stimmung hin oder her.
    DAS Organ der Rechtspflege, das einem solchen Ansinnen prompt nachkommt, hat für mich Schrumpfnierencharakter.
    Ich würde den Vorgang aktenkundig machen und dem Gericht schreiben, dass ich der dortigen Anfrage (näher ausführen) nicht Folge leisten würde.

  17. 17
    fernetpunker says:

    Schrumpfnierencharakter, das ist doch mal ein Argument. Das Gericht verlangt mitnichten, dass vom Veteidiger „Originale“ hergestellt werden sollen, sondern es wird um Überreichung der „Abschriften“ gebeten.

  18. 18
    Peter says:

    Siehe „Verbummelte Dokumente„.

    Kann mich dem Kollegen Vetter nur anschließen – alles andere wäre in die hohle Hand des Richters gespielt und dies ist hier nicht mit der Berufsaufassung eines Straverteidigers vereinbar – man hilft nicht dem Richter revisionsfest den Mandanten zu verurteilen! Stimmung des Richters hin oder her!

  19. 19
    Das Ich says:

    @CRH … was haben Sie gegen Köln?
    Und die Hölle ist in Berlin. Die habt ihr euch mit dem Berlin/Bonn-Gesetz selber ins Haus geholt. ;-)
    Ätsch! Zur Strafe schicke ich Ihnen jetzt nen Sixpack ordentliches Kölsch zu Weihnachten;-)

  20. 20

    Ich habe nicht gegen Köln, schließlich bin auch ich in einer klüngeligen Kleinstadt aufgewachsen.

    Und das mit dem Kölsch führt zur Höchststrafe, sach ich Ihnen! Ehrlich, bah!

  21. 21
    Das Ich says:

    Na die Strafe muss ja auch einen erzieherischen Wert haben, oder?

  22. 22
    Martin S. says:

    also bitte … jede zusammenarbeit mit dem feind, jedes helfen zu einer verurteilung ist absolut abzulehnen. die tatsache dass hier nun dokumente verschwunden sind ist doch nur das ergebnis der umstände die in der deutschen justiz ohnehin im argen liegen. diese dokumente auszuliefern bedeutete der strafjustiz beim verschleiern aktiv beihilfe zu leisten. insbesondere zeigt es wie das gericht mit dem antrag umgegangen ist … es war dem gericht augenscheinlich ohnehin egal was sie einst formulierten – aber um das urteil nun revisionsfest machen zu können muss ja eine alibi-pseudo-abwägung stattfinden. dazu wollen sie beitragen? ich hoffe doch nicht.

  23. 23
    der echte n.n. says:

    falls die HV tatsächlich noch läuft, würde ich mir mal die rspr des BGH zum thema konkludenter rücknahme von beweisanträgen anschauen. nur ein bsp:
    NStZ 2005 463
    ;-)

  24. 24
    der echte n.n. says:

    „Die Verfahrensrüge, mit der beanstandet wird, das Tatgericht habe die Entscheidung über einen bedingten Beweisantrag unterlassen, ist unbegründet, wenn sich aus dem Verhalten des Angeklagten und seines Verteidigers in der Hauptverhandlung ergibt, den Beweisantrag nicht aufrecht erhalten zu wollen.“

  25. 25
    gnülpf says:

    Dem kann man ja leicht vorbeugen, indem man dem Gericht mitteilt, dass die Weigerung zur „Ergänzung“ einer nicht ordnungsgemäß geführten Akte keinesfalls als Rücknahme von Anträgen zu werten ist.