Mit einem Fall aus dem Lehrbuch für’s strafrechtliche Grundstudium beschäftigt sich das Amtsgericht Tiergarten:
Wenn Edgar von H. einen U- oder S-Bahnsteig betritt, dann steckt er sich ein Schild ans Revers. Auf den ersten Blick könnte es ein Betriebsausweis sein. Beim näheren Hinsehen aber wird klar, dass er seine nächste Schwarzfahrt öffentlich macht: „Freie Fahrt in Bus und Bahn. Ich zahle nicht!“
liest man im Tagesspiegel.
Ist das noch ein „Erschleichen von Leistungen“ nach § 265a StGB?
Ich führe mal den Beschluß des BayObLG vom 21. 2. 1969 (RReg. 3 a St 16/69) in Feld:
Wenn jedoch ein Fahrgast eine unentgeltliche Beförderung durch die Straßenbahn deren Fahrpersonal gegenüber, gleich aus welchen Gründen, ganz offen in Anspruch nimmt, kann von einem Erschleichen schlechterdings nicht mehr gesprochen werden.
Diese Argumentation hat was für sich. Erschleichen ist etwas Verdecktes. Das Schild „Ich bin Schwarzfahrer!“ ist das Gegenteil von verdeckt.
Ich denke mal, das Amtsgericht Tiergart wird den allgemeinen übergesetzlichen Grundsatz anwenden: Das geht doch nicht! Wo kommen wir denn da hin?! Wenn das jeder machen würde!
Wo wir dahin kommen? Zurück zur guten alten Einlasskontrolle, bevor es auf den Bahnsteig oder in den Bus geht.
Das wird damit enden, dass die BVG ein Hausverbot gegen ihn ausspricht und ihn dann wegen § 123 StGB anzeigt.
Als nächtes werden sie versuchen, in ihre AGB ein antizipiertes Hausverbot gegenüber allen Schwarzfahrern einzuführen.
Im vorliegenden Fall dürfte der Gedanke an § 123 StGB für die BVG zu spät kommen: § 77b StGB.
Ich bin optimistisch, dass dem AG Tiergarten bekannt sein wird, dass der BGH vor kurzem die zitierte Auffassung des BayObLG ausdrücklich verworfen hat (BGHSt 53, 122 = NJW 2009, 1091). Dass der Täter durch täuschungsähnliches oder manipulatives Verhalten Kontrollen umgeht, ist danach explizit nicht erforderlich.
RA Munzinger: Auja! Und mit Bahnsteigkarten.
@ Gero:
Der von Ihnen zititerte Fall, den der 4. Senat da im Januar entschieden hat, unterscheidet sich hinsichtlich des Schildes, das der „Schwarzfahrer“ jeweils an seiner Jacke befestigte: Dort gab es kein solches.
Es kommt natürlich auf die Größe des Schildes an … und auf die Größe der Schrift … und auf die Farbe des Schriftbildes (hellgrau auf dunkelgrau?) … undundund.
Eine Menge Stoff, um „Das-geht-doch-nicht!“ zu begründen.
Vielleicht gibt es auch Freispruch. Das AG Hannover hat beispielsweise mit Urteil vom 18. Juni 2006 in einem Fall freigesprochen, in dem sich der Angeklagte ganz normal verhalten hatte und nicht einmal ein solches Schild getragen hatte (allerdings aufgehoben durch OLG Celle, Urteil vom 27.01.2009, Az. 32 Ss 159/08).
Es gibt ab und an auch couragierte Amtsrichter, die sich ihrer Unabhängigkeit bewusst sind und das Gesetz nach den Regeln der juristischen Kunst auslegen und anwenden.
Im oben genannten Fall würde ich aber auch nicht auf einen Freispruch wetten. Wenn der Ausweis auch erst beim näheren hinsehen zu erkennen war, dann kann man vielleicht auch noch ein Erschleichen vertreten (wäre dann Tatfrage).
Lesetipp: Kapitel 7 und 8 von dem Buch „Ballmanns Leiden“. Da geht es um einen Richter (!), der schwarz fährt, verhaftet wird und vor einem Schnellgericht landet :-)
Ach, sehe gerade, dass schon eine BGH Entscheidung zu der Frage der Notwendigkeit eines täuschungsähnlichen Verhaltens zitiert wurde…
@ crh: Mal abgesehen davon, dass der Angeklagte in der von Ihnen zitierten BayObLG-Entscheidung ebenfalls kein Ansteck-Schildchen trug (sondern unter den Augen des Personals Protest-Flugblätter verteilte), sollten wir uns vielleicht noch darüber einig werden, dass eine funkelnagelneue BGH-Entscheidung etwas relevanter ist als ein 40 Jahre altes Urteil des BayObLG seligen Angedenkens.
Die jüngste BGH-Entscheidung überzeugt allerdings nicht. „Erschleichen“ setzt dem Wortlaut nach ein täuschungsähnliches Verhalten voraus. § 265a StGB ist ein Auffangtatbestand für betrugsähnliches Verhalten.
Die Auslegung des BGH ist nur rechtspolitisch begründet, geht aber am Wortlaut und dem Standort der Norm im Gefüge der „Täuschungsdelikte“ (Betrug, Urkundenfälschung, Untreue, usw.) vorbei. Ein weiteres Beispiel dafür, daß in der Rechtsprechung zunehmend nur noch das Ergebnis zählt, aber nicht die schulmäßige Anwendung einer Norm? Wie soll man das nur den armen Jurastudenten erklären?