Kalte Füße

Das Urteil gegen den Mandanten erging am Dienstag. Das Gericht teilte dem Mandanten mit, daß er nun eine Woche Zeit habe, um ein Rechtsmittel – Berufung oder Revision – gegen die Entscheidung einzulegen, § 314 StPO und § 341 StPO. Eine weitere Belehrung über die Fristen hörte sich der Mandant von seinem Verteidiger nach der Verhandlung an.

Am Mittwoch rief der Mandant das erste Mal an, ob das Rechtsmittel denn schon beim Gericht sei. Am Freitag erfolgte der zweite besorgte Anruf, am Montag der dritte. Damit hat sich der Mandant dann insgesamt viermal angehört, warum es sinnvoll ist, daß das Fax erst am Dienstag nach 19:00 Uhr – also knapp vor Ende der Rechtsmittelfrist – an das Gericht geschickt werden sollte und wird. Am Dienstag um 19:10 Uhr rief der Mandant erneut an …

Den Hintergrund für die Fristen-sind-dazu-da-um-sie-auszunutzen-Strategie liefert ein gesundes Mißtrauen gegenüber Richtern und Staatsanwälten.

Über einen hinterhältigen Richter berichtete Richter Ballmann:

… Anwalt legt 3 Tage nach Urteilsverkündung per Fax Rechtsmittel ein. Mein Kollege [also der Richter, dessen Urteil angegriffen wird. crh] kann richtig gemein sein: Er ruft den zuständigen Staatsanwalt an. Der legt Berufung ein.

Es gibt aber auch charakterlose Staatsanwälte, die sich von sich aus auf der Geschäftsstelle des Gerichts erkundigen, ob denn der Verurteilte das Urteil nicht akzeptieren möchte, und gegebenenfalls dann ebenfalls ein Rechtsmittel – meist eine Berufung – einlegen.

Das führt dann zu häßlichen Konsequenzen für den Verurteilten.

Wenn nur er allein das Urteil angreift, kann das Rechtsmittelgericht das Ergebnis nicht verbösern: Einen Nachschlag gibt es dann ganz sicher nicht.

Richtet sich die Staatsanwaltschaft jedoch ebenfalls gegen die erstinstanzliche Entscheidung, ist der Weg zur „reformatio in peius“ offen: In dem von Richter Ballmann zitierten Beispiel wurden deswegen aus „1 – 10“ dann am Ende „3 – 2“.

Eine weitere schurkenhafte Motivation der Staatsanwaltschaft ist denkbar, wenn der Verurteilte eine Revision einlegt: Die Staatsanwaltschaft kann dieses Rechtsmittel mit ihrer Berufung verhindern; dann wird es nichts mehr mit der Revision.

Wenn man also etwa gegen 19 Uhr oder später am Tage des Fristablaufs das Rechtsmittel auf die Geschäftsstelle des Gerichts sendet, kann man sicher sein, daß davon kein Staatsanwalt etwas erfährt, jedenfalls nicht vor Ablauf der Wochenfrist: Die Geschäftsstellen sind um diese Zeiten nicht besetzt.

Das einzige Problem bei diesem Verfahren sind die kalten Füße mancher Mandanten.

Dieser Beitrag wurde unter Mandanten, Verteidigung veröffentlicht.

22 Antworten auf Kalte Füße

  1. 1
  2. 2

    Es gibt auch immer wieder Kollegen die nicht verstehen, warum man eben nicht nach der Verhandlung aufspringen und sofort Berufung oder Revision schreien sollte. Diese und andere Kollegen schauen mich dann auch immer mit einem Kopfschütteln an, wenn ich eben sage, das Rechtsmittel wird frühestens 4-5 Stunden vor Fristablauf eingelegt. Als Antwort bekomme ich dann zu hören: „Immer diese Spielchen!“

    Die Mandanten sind jedenfalls froh über solche Spielchen, denn es ist doch ungemein beruhigend zu wissen, dass es in der 2. Instanz dann nicht schlimmer kommen kann. (Die Konstellation mal ausgenommen, in der die Staatsanwaltschaft so oder so Rechtsmittel einzulegen gewillt ist.)

  3. 3
    Peter says:

    Nehmen Sie auch überregionale Mandate an? :-)

    Ich habe im Zweifelsfall lieber einen Anwalt, der die „Spielchen“ kennt. Steht ja leider nicht auf der Visitenkarte, woher soll man als Mandant also wissen, ob man ein „Wiesel“ vor sich hat :-)

      In Strafsachen verteidigen Rechtsanwalt Carsten R. Hoenig und Rechtsanwalt Tobias Glienke ihre Mandantschaft bundesweit und auch im Ausland.

      crh

  4. 4

    […] This post was mentioned on Twitter by corax and KanzleiHoenigBerlin, Dr. Frank Westphal. Dr. Frank Westphal said: von Praktikern lernen: Taktik im Strafprozess RT @KanzleiHoenig: Kalte Füße http://bit.ly/4AzO35 […]

  5. 5
    Kampfschmuser says:

    Ich habe heute etwas (eventuell mal) Wichtiges gelernt. Danke.

  6. 6
    Tom Paris says:

    Solange es die von Ballmann beschriebenen Richter gibt, die ihre richterliche Unparteilichkeit dahingehend verstehen, die Staatsanwaltschaft über Rechtsmittel des Angeklagten, aber nicht den Angeklagten oder dessen Verteidiger über Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft zu unterrichten, sind solche „Spielchen“ leider nötig.

    Es soll aber auch nicht verschwiegen werden, daß es viele faire Richter gibt, die sich nicht als Hilfspersonen der StA verstehen oder im umgekehrten Fall den Verteidiger auch über Rechtsmittel der StA informieren.

  7. 7
    Techniker says:

    Kann man sich denn darauf verlassen, dass das Faxgeraet in der Geschaeftsstelle immer empfangsbereit ist? So nen Ding geht ja auch mal kaputt, oder vergisst nach einem Stromausfall seine Einstellungen etc.pp

  8. 8
    egal says:

    Es soll ja noch sowas wie Nachtbriefkästen bei Gerichten geben ;)

    Natürlich ist es sinnvoll, Rechtsmittelfristen voll auszunutzen. Aber das erfordert vom Mandanten auch viel Vertrauen, dass der Anwalt das nicht versemmelt.

    Leider arbeitet nicht jeder Anwalt immer so sorgfältig.

  9. 9

    Verständnisfrage: Wenn dem so ist, warum legt die StA dann nicht immer von vornherein Berufung ein? Macht das Arbeit, oder was ist der Grund?


      Ziffer 147 Absatz 1 RiStBV verbietet dies. Zu Recht. crh
  10. 10

    Für’s Verbaseln von Fristen gibt es die „Wiedereinsetzung in den vorigen Stand“, die bei Anwaltsverschulden im Strafrecht problemlos durchgeht.
    Und das nicht empfangsbereite Fax ist ein Wiedereinsetzungsgrund. Sogar in Zivilsachen, da die Frist voll ausgenutzt werden darf.

  11. 11
    Ref.iur. says:

    „Die Tatsache allein, dass ein
    anderer Beteiligter ein Rechtsmittel eingelegt hat, ist für den Staatsanwalt kein hinreichender
    Grund, das Urteil ebenfalls anzufechten“ — RiStBV Nr. 147 Abs. 1 S. 3

    Dies ist wohl die am meisten missachteste Richtlinie für die staatsanwaltliche Verfahrensweise. Schon bei meiner ersten Sitzungsvertretung meinte der Richter zu mir in der Vorbesprechung, dass es ja am AG nahezu unmöglich sei, revisionsfeste Urteile zu sprechen. Daher würde er PRAKTISCH IMMER, wenn ein Verurteilter Revison einlegt, die StA anrufen, damit diese SPERRBERUFUNG einlegen kann. Auch ein StA, der kurzzeitig mein Ausbilder war, meinte, dass man in solchen Fällen Sperrberufung einlegen müsse. Bei meinem Hinweis auf RiStBV Nr. 147 meinte er nur mit einem Lachen „Na klar!“.

    Allerdings muss man hier auch in aller Fairness berücksichtigen, dass die Praxis mancher Konfliktverteidiger, möglichst immer Revisionsfehler zu provozieren, damit die erstinstanzlichen Urteile des AG wieder und wieder aufgehoben werden und die Sache dann irgendwann nach § 153a StPO eingestellt wird, äußerst systemschädlich sist. Die Revision wird nämlich nicht mehr zur Korrektur von Rechtsfehlern sondern zum Missbrauch benutzt.

    Abgesehen von diesen Fällen der Konfliktverteidigung, die sich wegen der Kosten wohl eher auch nur für völlig vermögenslose oder ganz wohlhabende Mandanten lohnt, macht eine Sprungrevision vom AG zum OLG aber auch nur dann Sinn, wenn es wirklich um die Klärung materieller Rechtsfragen (oder solcher prozessualer Fragen, die ggf. ein neues Verfahren ausschließen) geht. In allen anderen Fragen ist der Mandant doch eigentlich mit einer Berufung viel besser bedient.

  12. 12
    Ref.iur. says:

    Kleiner Nachtrag:

    Wenn ein RA irgendwann im Bezirk dafür bekannt ist, am letzten Tag um fünf vor zwölf Revision einzulegen, dann kann es natürlich irgendwann passieren, dass sich das rumspricht und StAe in bestimmten Fällen schon mal präventiv Berufung einlegen. In so großen LG-Bezirken wie Berlin muss man sich dafür aber wahrscheinlich schon gehörig als Konfliktverteidiger ins Zeug gelegt haben…

  13. 13
    Der Gerd says:

    Was ist ein Konfliktverteidiger?

  14. 14

    @ Der Gerd:

    So werden solche Verteidiger bezeichnet, die die Fehler und Rechtsverstöße der Richter und Ermittler reklamieren und die die Beachtung der Rechte des Beschuldigten einfordern.

    Die anderen werden Verurteilungsbegleiter genannt.

  15. 15
    Simon says:

    123 RiStBV, das ist auch so eine Vorschrift, die nur auf dem Papier existiert.

  16. 16
    Ref.iur. says:

    @ Der Gerd

    KONFLIKTVERTEIDIGER sind Verteidiger, die von Anfang an auf Konfrontation gehen. Anders als normale Verteidiger gehen sie dabei mit Methoden vor, die weit über das hinausgehen, was für eine vernünftige Wahrung der Rechte des Angeklagten erforderlich ist.

    In der schlimmsten Form stellt sich dieses Vorgehen so dar, dass eine Torpedierung und Paralisierung des gerichtlichen Verfahrens bezweckt wird. Es werden immer und immer wieder Anträge gestellt, die für die Wahrung der Rechte des Angeklagten völlig belanglos sind, um so einerseits Revisionsfehler zu provozieren und andererseits das Verfahren lahm zu legen.

    Beliebte Mittel sind hierbei Beweisanträge und Befangenheistanträge, insbesondere in Kombination. Zunächst wird ein Beweisantrag gestellt. Nachdem dieser Beweisantrag abgelehnt wird, wird ein Befangenheitsantrag hinterher gejagt. In besonders krassen landgerichtlichen Verfahren ist es schon vorgekommen, dass Verteidiger mehrere Hundert Beweis- und Befangenheitsanträge gestellt haben. Selbst recht einfache Verfahren können sich dann schon einmal über ein Jahr hinauszögern.

    Vor dem AG sind solche Auswüchse natürlich nicht so extrem. Aber auch hier kommt es vor, dass manche (wenige) RAe meinen, sich wie die letzten Rotzlöffel benehmen zu müssen. Manchmal steckt eine Taktik dahinter, durch Provozierung von Revisionsgründen ein Ping-Pong-Spiel zwischen AG und OLG zu betreiben. Nicht selten machen Konfliktverteidiger vor dem AG ihren Mandanten aber auch alles kaputt, da nachher wesentlich härterer Strafen rauskommen oder ggf. mögliche Einstellungen nicht vorgenommen werden, als beispielsweise bei einer normalen Verteidigung.

    Der VERURTEILUNGSBEGLEITER (auch Urteilsbegleiter) hingegen ist ein Waschlappen. Er ist i.d.R. ein schlechter RA, der nicht viel mehr macht, als seinen Mandanten psychologisch zu begleiten und im Gericht neben ihm zu sitzen. Wenn eine Verteidigung erforderlich ist und der Angeklagte keinen Wahlverteidiger hat und auch keinen RA für die Bestellung als Pflichtverteidiger bestellt, dann bestellt der Vorsitzende irgendeinen RA. Manche Richter empfinden es als bequem, wenn dann lediglich ein Urteilsbegleiter mit im Gericht sitzt. Er bereitet keine Probleme. Gute Richter hingegen wissen es zu schätzen, wenn ein guter RA mit im Saal ist, mit dem sie sich juristisch auf einer Ebene austauschen können.

    Dann taucht auch immer mal wieder der AKTIONIST, eine etwas weniger bekannte Anwaltsgattung, auf. Er bringt ungeplante und meist undurchdachte Aktionen, mit denen er meint, seinem Mandanten helfen zu können. Es kommt ihm nicht darauf an, mit seinen Aktionen das Verfahren zu torpedieren. Vielmehr will er – wie ein guter RA – das Optimum für seinen Mandanten rausholen. Für die anderen Verfahrensbeteiligten ist er oft unkalkulierbar. Nicht selten gehen seine Aktionen aber nach hinten los und er reitet den Angeklagten mit seinen Aktionen völlig in die Scheiße. Tatsächlich geschehenes Bsp.: Hauptverhandlung wegen gewerbsmäßigen Bandendiebstahls. Der Verteidiger führt aus, dass aus der Einlassung des Angeklagten vor dem Haftrichter, er habe schonmal gesessen, nicht entnommen werden könne, dass der Angeklagte schon einmal in seiner Heimat Polen zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Es bedürfe eines polnischen Registerauszugs. Der im Fortsetzungstermin verlesene polnische Registerauszug enthielt 18 Eintragen, u.a. mehrere langjährige Haftstrafen wegen Raubs, gewerbsmäßigen Diebstahl, gef. Körperverletzung, Hehlerei, etc.

  17. 17
    Dr. B. says:

    @ Ref.iur.

    Man muß wahrlich kein sog. „Konfliktverteidiger“ sein, um gegen ein amtsgerichtliches Urteil mit der Sprungrevision durchzudringen.

    Manche Amtsrichter können (meist aus Inkompetenz oder sachlichen Zwängen) oder wollen (meist aus Blasiertheit oder Gleichgültigkeit) kein den Regeln der StPO entsprechendes Verfahren gewährleisten. Wenn die einfachsten verfahrens- und materiellrechtlichen Regeln nicht eingehalten werden, muß man kein Revisionsspezialist sein, um das Urteil zu Fall zu bringen.

    Unter den merkwürdigen Produkten amtsgerichtlicher Rechtsprechung leiden ja nicht nur Angeklagte und Verteidiger, sondern oft genug auch die Staatsanwaltschaft. Strafrichter sind nicht selten spezielle Typen, die sich in der Rolle des Dorfrichter Adams gefallen und das Gesetz nur als unverbindliche Anregung betrachten.

  18. 18
    Staatsanwalt says:

    Man könnte hier glatt den Eindruck gewinnen dass taktierende Staatsanwälte „Schurken“ sind, taktierende Verteidiger die (ebenfalls) die StPO ausschöpfen Ritter des Rechtsstaats :)

    Im Ernst: Natürlich gibt es die hier geschilderte Praxis. Allerdings akzeptiert die StA in der Regel auch ihrer Auffassung nach zu milde Urteile, soweit noch vertretbar. Wenn allerdings der Angeklagte gegen ein zu mildes Urteil noch Berufung einlegt oder dies zu erwarten ist „zieht“ die StA natürlich mit um ein am Ende absolut unpassendes Ergebnis zu vermeiden. „Bestellte“ Berufungen bei antragsgemäßer Entscheidung sollte es hingegen nicht geben, auch wenn ich Gerüchte über solche Praktiken schon gehört habe :)

    Im übrigen: Den vorstehenden Beitrag von Dr. B. kann ich nur beipflichten. Das Pendel amtsrichterlicher Eigenwilligkeit geht regelmäßig in beide Richtungen.

    @ ref. iur: Schöne und zutreffende Charakterisierung auch wenn ich ansonsten kein Freund davon bin Menschen in Kategorien zu erfassen.

  19. 19
    Scharnold Warzenegger says:

    Kann mir mal jemand den Unterschied zwischen Berufung und Revision KURZ erläutern?

  20. 20

    Berufung ist eine (neue) Tatsacheninstanz, Revision eine Rechtsinstanz. Kurz genug? 8-)

  21. 21
    egal says:

    Berufung ist sozusagen eine zweite erste Instanz, das Verfahren beim vorherigen Gericht ist vergessen, alles muss wiederholt werden,usw.

    Revision ist als „Rechtsinstanz“ nur dazu da, das Urteil des Amts- oder Landsgerichts auf rechtliche Fehler zu untersuchen (Verfahrensfehler zB). Dabei wird aber das Ergebnis der Hauptverhandlung bzgl.des tatsächlichen Hergangs zugrunde gelegt.

    Was mich aber mal interessieren würde, ist die praktische Folge der Verletzung der RiStBV. Als Verwaltungsvorschrift wird es für den Angeklagten doch schwierig sein sich auf diese Verwaltungsvorschrift zu berufen. Revisionsgrund ist das auch nicht.

    Es wird wohl einen Grund geben, warum wichtige Regelungen in der RiStBV nicht auch in der StPO stehen, wie etwa das mit der Sperrberufung. Was macht ein Anwalt dann? Dienstaufsichtsbeschwerde? Die hilft dem Angeklagten im Zweifel dann auch nicht mehr. Oder kann man mit dem Verweis auf die RiStBV wirklich den Vorgesetzten noch beeindrucken?

  22. 22
    steve says:

    ggf wird der schriftsatz der sta zurück datiert und die sache paßt wieder ….

    der hier aufgeführte trick ist nicht viel wert…