Jahresarchive: 2009

Prozeßbericht auf Kiel211

Ein interessantes Projekt ist das Blog von Rüdiger Kohls, a.k.a BreakingNews, Kiel211:

Die Idee hinter “Kiel211? [„211“ steht für § 211 StGB, der im deutschen Strafrecht den Mordtatbestand regelt] und damit hinter einer regelmäßigen Berichterstattung über Kapitalstrafverfahren im Landgerichtsbezirk Kiel entwickelte sich Anfang 2008,

beginnt er eine umfangreiche, gleichwohl kurzweilige Selbstdarstellung.

Die Prozeßberichterstattung unterscheidet sich jedoch wesentlich von den Gerichtsreportagen der Medienvertreter, die sonst so auf der Pressebank im Saal sitzen oder hinter den Verfahrensbeteiligten auf den Fluren herlaufen.

Rüdiger Kohls liefert eine Art Protokoll, eine ausführliche und detailreiche Zusammenfassung der Beweisaufnahmen. Auf diese Weise ist es dem (kundigen) Leser möglich, den Prozeß und später die Entscheidungen der Richter gut nachvollziehen zu können:

Daher bemühe ich mich, so nah an den Geschehnissen im Gerichtssal zu bleiben wie nur möglich: Chronologisch weitgehend dem Ablauf der Beweisaufnahme folgend und nach bestem Wissen und Gewissen inhaltlich korrekt, …

Spannend finde ich übrigens den folgenden Gedanken.

Bei den Kammern des Landgerichts – anders beim Amtsgericht – wird kein Wortprotokoll geführt. Deswegen kommt es immer wieder zur Diskussionen zwischen den Beteiligten, was denn in der Beweisaufnahme gesagt wurde.

Jeder Verteidiger kennt das Gefühl, in einem völlig anderen Prozeß gesessen zu haben als der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft oder die Kammer. Verlockend ist es dann natürlich, auf so eine detaillierte Prozeßberichterstattung zurück greifen zu können. Ich könnte mir durchaus vorstellen, daß irgendwann einmal Rüdiger Kohls als Zeuge dafür benannt wird, was ein anderer Zeuge auf die Frage des Gerichts geantwortet hat.

Das steckt viel gute Arbeit drin. Ich werde sicherlich das eine oder andere Mal vorbeischauen.

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Lehrstück für Jugendliche

An einem drastischen Beispiel dafür, wie es die Justiz schafft, daß zwei junge Menschen jegliches Vertrauen zum Rechtsstaat verlieren, durfte ich in dieser Woche in Moabit teilnehmen.

Ich war gerade dabei, mich mit einem kleinen Schwätzchen bei der Mitarbeiterin im Anwaltszimmer zu verabschieden, als wir von einem richterlichen Anruf unterbrochen wurden: Die Richterin braucht sofort einen Verteidiger und ob ich Zeit hätte. Den Hut und den Mantel habe ich wieder in die Garderobe gehängt, Robe über die Schulter geworfen und ab in den Gerichtssaal. Dort verhandelte das Jugendschöffengericht über den Vorwurf eines schweren Raubes. Ohne Verteidiger.

Der Kundige weiß, daß der schwere Raub ein Verbrechen ist und daß dies ein Fall der notwendigen Verteidigung darstellt. Also: Ohne Verteidiger geht da gar nichts, § 140 I StPO. Eigentlich.

Das ist der Richterin dann auch aufgefallen, nachdem die Anklage bereits verlesen wurde. Warum das bei Anklageerhebung dem Staatsanwalt und im Zwischenverfahren oder bei der Vorbereitung dem Gericht nicht aufgefallen ist, vermute ich, sage ich hier aber nicht. Nichts ist unmöglich, wenn es um die Rechte eines jugendlichen Angeklagten geht.

Ich stand nun da, ohne jegliche Aktenkenntnis. Und nur weil die Richterin meinte, es könne auf einen Freispruch hinauslaufen, habe ich mich mit Bauchschmerzen zur Verteidigung bereit erklärt.

Erste Maßnahme: Dem Mandanten, einem 17-jährigen Gymnasiasten, habe ich zur Verteidigung durch Schweigen geraten. Ein Risiko weniger.

Dann begann die Beweisaufnahme. Geschädigter war ein etwa 25-jähriger Türke, der an einem Down-Syndrom (Trisomie 21) leidet (sagt man das so?). Der Staatsanwalt polterte noch ungefragt, auch ein so Behinderter könne ein tauglicher Zeuge sein.

Der Dolmetscher war super. Er konnte den Zeugen verstehen und so übersetzen, daß er auch alles verstehen konnte. Es war schwierig, funktionierte aber. Ich habe keine Fragen gestellt und ins Protokoll diktiert, daß ich dies mangels Aktenkenntnis nicht könne.

Es stellten sich massive Widersprüche heraus, zwischen dem, was in der Akte stand (die „Protokolle“ der „Vernehmung“ des Zeugen durch die Polizei) und dem, was wir im Gericht hörten. Penny-Parkplatz oder Park mit Bäumen? Ein Täter, oder zwei, oder drei? Weiße Kleidung oder schwarze? Undundund … Bereits damit war der Ausgang klar: Im Zweifel für den Angeklagten.

Die beiden Polizeibeamten, die „ermittelt“ hatten, wurden dann noch gehört. Der eine war vor Ort und hat die Anzeige des Zeugen entgegen genommen. Und ist dann mit dem Zeugen und seiner Schwester im Auto auf Tätersuche gegangen. Der Angeklagte war damals zufällig in der Nähe, stand dort rum, als der Polizeibeamte den Zeugen (türkisch, Down-Syndrom) fragte: Ist der das? Der Zeuge bejaht. Der Angeklagte wird ans Auto herangeholt und nochmal gefragt: Ist der das? Die Schwester hat das alles „übersetzt“. Damit war der Fall geklärt.

Dann kam der zweite Polizist ins Spiel. Er hat den Zeugen zur Nachvernehmung auf’s Revier geladen. Als Dolmetscherin fungierte wieder die Schwester. Man könne ja nicht bei jeder Vernehmung eines Ausländers einen vereidigten Dolmetscher heran holen. Kostet doch! Und die Schwester tut’s doch auch. Es wurde ein Foto des Angeklagten gezeigt: Der war es! Die Schwester übersetzt dann noch den Tathergang …

Ja, das war es dann wirklich.

Der Zeuge, der ohnehin stets ängstlich unterwegs war, mußte nun erleben, wie er mit einem Messer bedroht und seines Handys beraubt wurde, und derjenige, den er als Täter wieder erkannt hatte, wurde freigesprochen. Der wird die Welt jetzt noch weniger verstehen wie vorher.

Es war im Rahmen der Beweisaufnahme ziemlich deutlich geworden, daß es der Angeklagte sehr wahrscheinlich nicht war; jedenfalls war davon auch der Staatsanwalt am Ende überzeugt. Hätte dort ein anderer Jugendlicher gestanden, auf den (erste) Polizeibeamte gezeigt hat, wäre es eben der andere „geworden“.

Der Gymnasiast, hat erlebt, wie schlampig die Polizeibeamten arbeiten, wie leicht man einer schweren Straftat falsch verdächtigt werden kann, welche Fehler Staatsanwälte bei den Ermittlungen machen und wie ein Gericht mit den Rechten eines Angeschuldigten umgeht. Auch das wird einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Hoffentlich ist es mir gelungen, dem Jungen die Funktion eines Strafverteidigers zu vermitteln.

Ich bin nach Schluß der Sitzung zur Protokollführerin gegangen, um mich nach dem Aktenzeichen des Verfahrens zu erkundigen. Und nach dem Nachnamen meines Mandanten.

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Kulturwandel

Es geht hier um einen Kulturwandel. Das Rad als Verkehrsmittel nimmt heute einen viel größeren Raum ein als noch vor wenigen Jahren. Allerdings führt dieser Wandel auch dazu, dass testosterongeladene Jungmänner, die früher im Opel Manta Angst und Schrecken verbreiteten, nun die gleichen Verhaltensmuster auf Mountain-Bikes an den Tag legen.

Quelle: Ambros Waibel in der taz

Ich erinnere noch an den Fuchsschwanz. Der fehlt heutzutage. Noch?

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Strafverteidigung ist wie Klavierspielen

Immer wieder mal kommen junge Kollegen, Referendare oder Studenten und weisen mich auf Rechtsnormen oder BGH-Entscheidungen hin, die ich in dem konkreten Fall berücksichtigen müßte und nach dortiger Ansicht übersehen hätte.

Gegenüber Zivilrechtlern sind Strafrechtler insoweit im Vorteil: Es gibt wesentlich mehr Rechtsnormen, die die Verhältnisse zwischen den Bürgern untereinander regeln, als Paragraphen im Strafgesetzbuch. Das BGB hat beispielsweise 2385 Nummern. Das StGB dagegen nur 358. Vergleichbares gibt es in den jeweiligen Prozeßrechten, ZPO und StPO. Dazu kommt, daß viele dieser strafprozessualen Vorschriften an Richter und Staatsanwälte gerichtet sind, und den Verteidiger nur mittelbar betreffen. Und der BGH wirft wesentlich mehr zivilrechtliche Entscheidung aus als strafrechtliche.

Es ist also eine überschaubare Menge an Stoff, die ein Jurist, der Strafjurist werden möchte, zu lernen hat. Das ist in der Regel zum größten Teil mit dem zweiten Examen erledigt. Den Rest holt man sich aus ein, zwei Fachzeitschriften, einigen Newslettern und bei www.juris.de.

Nach der Ausbildung geht es darum, diese gelernten Regeln anzuwenden. Und damit sind wir bei der Überschrift. Es reicht nicht aus, Noten lesen zu können und zu wissen, an welcher Stelle auf dem Klavier sich die Taste für das Hohe C befindet. Man muß auch wissen, in welchem Moment man welche Taste zu drücken hat.

Und das lernt man durch Üben, Üben, Üben. Und durch Erfahrung, die man (auch) mit Falschspielen gemacht hat. Dann gelingt es in vielen Fällen, ein ansprechendes Ergebnis zu erzielen, ohne daß man vorher dicke Bretter gebohrt hat.

Warum ich das jetzt schreibe? Es war ein Hinweis in einem Kommentar auf eine BGH Entscheidung, die ich in dem kommentierten Beitrag nicht berücksichtigt habe. Der Kommentator mußte den Eindruck bekommen, ich hätte sie nicht gekannt oder übersehen.

Es war ein Beschluß, der eine relativ große Änderung der Strafzumessungsregeln zur Folge hatte. In der Theorie. Die Praxis sieht anders aus. Und die lernt man eben nicht auf der Schulbank und aus staubigen Büchern. Sondern im Gerichtssaal und in der Auseinandersetzung mit Menschen. Und genau das ist das Prickelnde am Beruf eines Strafverteidigers (Revisionsrechtler mal außen vor gelassen).

Just my 2 cents …

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Nur gedankenlos?

In Dresden gibt es eine Schule für Behinderte: Förderzentrum „Professor Dr. Rainer Fetscher“ Schule für Körperbehinderte Dresden. Wer war dieser Rainer Fetscher, der mit der Namensgebung geehrt wird? Darüber gibt Wikipedia Auskunft.

Und die taz. Die Zeitung berichtet über eine Studie des Chemnitzer Historikers Geralf Gemser.

„Wir sehen im Moment keinen Handlungsbedarf“, sagt die Schulleiterin Susanne Petschke.

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Der Prozeß in Kiel

Über das Verfahren vor dem Landgericht Kiel gegen den Ex-NPD-Landeschef, dem die Anklage vorwirft, einen Angel „vorsätzlich mittels einer Waffe und einer das Leben gefährdenden Behandlung körperlich mißhandelt und an der Gesundheit geschädigt zu haben„, berichtet sehr ausführlich Rüdiger Kohls auf www.kiel211.de.

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Baubeginn für den Bau

Nach jahrelangen Planungen hat am 2.2.09 der Bau der neuen Berliner Justizvollzugsanstalt Heidering in Großbeeren (Teltow-Fläming) begonnen. […] Bis spätestens Anfang 2012 soll das neue Gefängnis […] fertig sein.

Quelle: Märkische Allgemeine

Für Verteidiger nicht so schön. Die JVA Tegel ist schon weit weg von Kreuzberg. Großbeeren ist dagegen schon fast ein Halbtagesausflug. Aber die JVA Heidering soll ja schöner werden als Tegel; dann brauchen die Häftlinge ja auch nicht so oft Besuch.

Apropos Besuch: Man kann nur hoffen, daß die Planer diesmal an die Anbindung des Knasts an den ÖPNV denken. Die Brandenburger Gefängnisse in Luckau-Duben, Cottbus und in Wulkow beispielsweise sind so gut wie überhaupt nicht auf diesem Weg erreichbar. Nicht jeder Angehörige eines Knackis hat ein eigenes Auto oder Geld für die Droschke.

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Fristen gibt’s, um ausgenutzt zu werden

Ich hatte Akteneinsicht beantragt und um Übersendung der Akten an unsere Kanzlei gebeten. Der Richter schreibt mir zurück:

wird Ihnen auf Ihren Antrag vom 21.01.2009 Akteneinsicht durch Mitnahme der Akten in Ihre Kanzleiräume für drei Tage bewilligt. Die Akten können – nach vorheriger telefonsioher Terminabsprache auf der Geschäftsstelle der Abt. 123 Raum X 123 , Tel. 030-9014 1234 abgeholt werden. Ein Rechtsanspruch auf Aktenübersendung besteht nicht. Eine eventuelle Einlassung bitte ich bis spätestens 28.02.3009 abzugeben.

Übersetzt heißt das: Verteidiger, hol Dir das verdammte Zeug die Akten doch gefälligst selbst hier ab!

Gibt es jetzt noch einen Grund, warum ich der Bitte des Richters entsprechen soll, ihm eine Verteidigungsschrift mit den Beweis-Anträgen so rechtzeitig zukommen zu lassen, daß er die Hauptverhandlung entsprechend vorbereiten kann?

Oder warte ich damit bis zum 28.02.3009. (Auch weil das dem Mandanten nicht schadet und er nichts dagegen hat, wenn sich das mit der Verurteilung noch etwas hinzieht.)

(Anmerkung: Nein, ich habe mich hier nicht im Jahr vertippt!)

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Jugendstrafrichterin in Neukölln

Sie fährt einen harten Kurs, schickt junge Straftäter in den Knast. Zugleich aber sucht Jugendrichterin Kirsten Heisig nach neuen, besseren Wegen im Berliner Problemkiez Rollbergviertel – mit Mut und Elan redet sie Jugendlichen und ihren Eltern ins Gewissen.

Über die Jugendstrafrichterin berichtet der Spiegel.

Frau Heisig ist mutig; sie mag in ihren Verhandlungen keine Verteidiger. Und auch das erzählt sie öffentlich, z.B. in einer Fortbildungsveranstaltung der Vereinigung Berliner Strafverteidiger.

Danke an „egal“ für den Hinweis. crh

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Verteidiger gesucht?

sonstige-angelegenheiten

Naja.

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