Strafverteidigung ist wie Klavierspielen

Immer wieder mal kommen junge Kollegen, Referendare oder Studenten und weisen mich auf Rechtsnormen oder BGH-Entscheidungen hin, die ich in dem konkreten Fall berücksichtigen müßte und nach dortiger Ansicht übersehen hätte.

Gegenüber Zivilrechtlern sind Strafrechtler insoweit im Vorteil: Es gibt wesentlich mehr Rechtsnormen, die die Verhältnisse zwischen den Bürgern untereinander regeln, als Paragraphen im Strafgesetzbuch. Das BGB hat beispielsweise 2385 Nummern. Das StGB dagegen nur 358. Vergleichbares gibt es in den jeweiligen Prozeßrechten, ZPO und StPO. Dazu kommt, daß viele dieser strafprozessualen Vorschriften an Richter und Staatsanwälte gerichtet sind, und den Verteidiger nur mittelbar betreffen. Und der BGH wirft wesentlich mehr zivilrechtliche Entscheidung aus als strafrechtliche.

Es ist also eine überschaubare Menge an Stoff, die ein Jurist, der Strafjurist werden möchte, zu lernen hat. Das ist in der Regel zum größten Teil mit dem zweiten Examen erledigt. Den Rest holt man sich aus ein, zwei Fachzeitschriften, einigen Newslettern und bei www.juris.de.

Nach der Ausbildung geht es darum, diese gelernten Regeln anzuwenden. Und damit sind wir bei der Überschrift. Es reicht nicht aus, Noten lesen zu können und zu wissen, an welcher Stelle auf dem Klavier sich die Taste für das Hohe C befindet. Man muß auch wissen, in welchem Moment man welche Taste zu drücken hat.

Und das lernt man durch Üben, Üben, Üben. Und durch Erfahrung, die man (auch) mit Falschspielen gemacht hat. Dann gelingt es in vielen Fällen, ein ansprechendes Ergebnis zu erzielen, ohne daß man vorher dicke Bretter gebohrt hat.

Warum ich das jetzt schreibe? Es war ein Hinweis in einem Kommentar auf eine BGH Entscheidung, die ich in dem kommentierten Beitrag nicht berücksichtigt habe. Der Kommentator mußte den Eindruck bekommen, ich hätte sie nicht gekannt oder übersehen.

Es war ein Beschluß, der eine relativ große Änderung der Strafzumessungsregeln zur Folge hatte. In der Theorie. Die Praxis sieht anders aus. Und die lernt man eben nicht auf der Schulbank und aus staubigen Büchern. Sondern im Gerichtssaal und in der Auseinandersetzung mit Menschen. Und genau das ist das Prickelnde am Beruf eines Strafverteidigers (Revisionsrechtler mal außen vor gelassen).

Just my 2 cents …

Dieser Beitrag wurde unter Verteidigung veröffentlicht.

14 Antworten auf Strafverteidigung ist wie Klavierspielen

  1. 1
    R 1 says:

    Verraten Sie uns auch noch, welche BGH-Entscheidung zwar „eine relativ große Änderung der Strafzumessungsregeln zur Folge hatte“, für die Praxis aber gleichwohl so gut wie bedeutungslos sein soll?

  2. 2
    Malte S. says:

    jo, interessiert mich auch. Vor allem, warum sie in der Praxis nicht so bedeutsam ist.

  3. 3

    In diesem Kommentar habe ich den Beschluß mit Link zitiert.

    Lesen Sie zu der Umsetzung von Entscheidungen unseres obersten ordentlichen Gerichts in die Praxis die sehr interessante Diskussion im Beck Blog. Hier ein kleiner Auszug aus dem Beitrag von VRiOLG Prof. Dr. Bernd v. Heintschel-Heinegg:

    Grundsätzlich begrüßte Tolksdorf die Initiative zur gesetzlichen Regelung. Allerdings unterscheidet sich der Gesetzentwurf kaum von den Vorgaben, die der Große Senat des BGH bereits in seinem Grundsatzbeschluss vom 3.3.2005 (BGHSt 50, 40 = NJW 2005, 1440) formuliert habe – Vorgaben, „die in der Praxis nicht immer eingehalten werden.“ Der BGH-Präsident zeigte sich wenig zuversichtlich, dass die geplante gesetzliche Neuregelung Abhilfe schaffen werde.

    (Fett-Hervorhebung von mir)

    Jene Diskussion betrifft zwar eine andere Konstellation (der BGH zum Deal), zeigt aber deutlich, daß für abweichende Entscheidungen durch Instanz-Richter immer noch reichlich Spielraum ist. Und das ist auch gut so (Art. 97 I GG)!

    Um beispielsweise solche „Lücken“ zu (er)kennen und gemeinsam mit dem Gericht zu nutzen, braucht man eben ein Weilchen im Berufsleben.

  4. 4
    studiosus juris says:

    das bgb hat 2385 nummern? geschickt formuliert. da haben sie nämlich auch die mitgezählt, die schon lange weggefallen sind, ich denke da z.b. an die §§ 15-20 ;)

  5. 5
    AC says:

    Wenn ich das bereinige und die diversen Einfügungen (a,b,c..) berücksichtige, komme ich immerhin noch auf 2329 „aktive“ Paragraphen. Also kein signifikanter Unterschied, oder?

    Sehr lobenswert ist im Übrigen, dass sich endlich mal ein Strafrechtler findet, der anerkennt, dass die zivilistischen Kollegen die schwierigere Aufgabe haben ;-)

  6. 6

    @ studiosus juris:
    Ich habe nicht gezählt, sondern schlicht die letzte Seite aufgeschlagen und die Zahl, die dort ganz unten stand abgeschrieben. :-)

    @ AC:
    Die schwierigere *juristische* Aufgabe, das ja. Kein Thema. Aber haben Sie schon mal einen Vater von drei Kindern, dem man eine Sexualstraftat vorwirft, in der Untersuchungshaftanstalt besucht?

  7. 7
    studiosus juris says:

    @ crh:
    das dachte ich mir, deshalb konnte ich mir die kleine spitze nicht verkneifen ;)

    kleine nachfrage: können sie abschätzen, wieviel % ihrer arbeit „nichtjuristisches“ umfasst? ich denke da an organisatorisches für den mandanten erledigen, seelsorgereähnliche gespräche etc.

  8. 8

    @ studiosus juris:
    Ich kann keine Zahlen liefern. Ein großer Teil der Arbeit ist Mandantenpflege (der Verteidiger als säkularisierter Pfarrer), Aktenstudium und Recherche am Sachverhalt. Ein weiterer großer Teil besteht aus Telefonaten, Gesprächen und Verhandlungen mit Verfahrensbeteiligten. Das sind dann bereits mehr als 50 %. Dem folgt die Arbeit am formellen / Prozeß-Recht; den geringsten Teil beschäftige ich mich mit materiellem Recht.

    Die allerschlimmste Arbeit besteht in den Versuchen, einen zuständigen Sachbearbeiter bei der Staatsanwaltschaft in Moabit an’s Telefon zu bekommen. Es gehen Gerüchte um, daß das schon gestandenen Verteidiger in den Suizid getrieben hat.

  9. 9
    AC says:

    @crh:

    Nein, ein solches Erlebnis ist mir bisher erspart geblieben und wird es zukünftig auch, da solche Fälle meine strafprozessualen Kompetenzen und Ambitionen übersteigen.

    Ihre Ausführungen sind zutreffend, insbesondere der Hinweis auf den richtigen Zeitpunkt, „um eine Taste zu drücken“ — Formularbücher ersetzen eben nicht alles.

    Deshalb ja auch der Smiley hinter dem Kommentar.

  10. 10
    studiosus juris says:

    danke.

  11. 11
    ballmann says:

    Strafverteidigung ist wie Klavierspielen

    manche Ihrer Kollegen sind aber beim Flohwalzer steckengeblieben ;-)

  12. 12
    doppelfish says:

    … und bei manchen muss man noch die eine oder andere Saite nachstimmen.

  13. 13
    egal says:

    Hm, da rechnete ich mit einer kleinen und kurzen Antwort und als Replik kam ein längerer Beitrag. *freu*

    Natürlich ist es wohl sehr naiv zu denken, dass die „Untergerichte“ der Rspr. des obersten Strafgerichts freudig nacheifern. Mir fehlt da auch jegliche Praxis.

    Aber mich würde dann doch interessieren, wie es denn regelmäßig mit der Staatsanwaltschaft aussieht. Der Sitzungsvertreter wird ja wohl diese Rechtsprechungsänderung kennen.

    Benutzt er denn das nicht als Verhandlungsmasse oder würde alleine die Erwähnung schon dazu führen, dass man (moralisch?) gezwungen wäre, dann die Rechtsprechung anzuwenden und ggf. eine „Verständigung“ im Strafprozess nicht mehr finden könnte, was sich einem längeren Prozess niederschlagen würde?

  14. 14