Besonderer Schutz der staatlichen Ordnung

Großes Kino vor der Strafkammer. Die Mitspieler waren drei Berufsrichter, zwei Schöffen, ein Ergänzungsschöffe, ein Urkundsbeamter der Geschäftsstelle, ein Staatsanwalt, drei Angeklagte, sechs Verteidiger, vier Wachtmeister.

Beginn des Films: 9:00 Uhr. Ende der Aufführung: 16:20 Uhr.

3 Minuten
Verlesung einer Erklärung durch einen Verteidiger.

60 Minuten
Vernehmung der erste Zeugin.

3 Minuten
Vernehmung des zweiten Zeugen mit Zeugenbeistand. Der Zeuge hat ein Zeugnisverweigerungsrecht aus § 55 StPO. Keine Aussage.

3 Minuten
Vernehmung des dritten Zeugen, auch mit Beistand. Der Zeuge ist mit einem der Angeklagten verwandt, § 52 StPO. Keine Aussage.

4 Stunden plus 50 Minuten Mittagspause
Vierte Zeugin: Zunächst ohne anwaltlichen Beistand. Beginn des Versuchs einer Klärung der Verwandtschaftsverhältnisse, da die Zeugin sich auf § 52 StPO beruft und nicht aussagen möchte. Nach zwei Stunden wurde ein Zeugenbeistand gerufen.

Die Ehe zwischen der Zeugin und einem Angeklagten wurde vor einem Geistlichen in einer europäischen Hauptstadt geschlossen. Vor 10 Jahren. Seit 11 Jahren leben die beiden zusammen. Sie haben vier gemeinsame Kinder. Sie stammt aus dem einen Land, er stammt aus dem anderen Land; die Kinder sind Deutsche. Eine Eheschließung vor dem deutschen Standesamt ist geplant, aber unterblieben, unter anderem weil die Papiere aus den jeweiligen Heimatländern wiederholt nicht zeitgerecht zu bekommen waren, aber auch weil Zeit für die Organisation und Geld für die Party fehlten. Eidesstattliche Versicherung des Eheversprechens durch die Zeugin (§ 56 StPO).

10 Minuten
Verkündung eines Beschlusses durch das Gericht (knappe zwei DIN-A4-Seiten):

Der Zeugin Wilhelmine Brause steht kein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 Abs. 1 Nr. 1 StPO zu. Die Prüfung hat ergeben, dass gegenwärtig kein Verlöbnis mit Bulli Bullmann besteht.

50 Minuten
Verschiedene Anträge der Verteidiger und des Zeugenbeistand … Erörterung, Stellungnahmen. Es geht um die Frage des Verlöbnisses, Unterbrechung … Prüfung von Ablehnungsgesuchen.

3 Minuten
Die Zeugin erleidet einen Kreislaufkollaps, nachdem sie seit 9 Uhr im Gericht ist, nichts gegessen und getrunken hat; zwei ihrer Kinder (6 und 8 Jahre alt) sind derweil allein zuhause.

16:20 Uhr
Die Sitzung wird ab- und unterbrochen; die Zeugin wird nebst Beistand zum Fortsetzungstermin in fünf Tagen erneut geladen … Der Zeugenbeistand bekommt Einsicht in die Akte: Fünfzehn Bände; acht DVD; zwei achtzigseitige Sachverständigengutachten. Damit er sich vorbereiten kann auf die weitere Erörterung des Verlöbnisses und prüfen kann, ob der Zeugin vielleicht noch ein anderes Zeugnisverweigerungsrecht (§ 55 StPO) zusteht.

Achso:
Die Zeugin soll zu den persönlichen Verhältnissen Ihres „Verlobten“ befragt werden. Nicht zur Sache selbst.

Soviel zum Thema Thema: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.“ (Art. 6 Abs. 1 GG)

Dieser Beitrag wurde unter Gericht, Strafrecht veröffentlicht.

13 Antworten auf Besonderer Schutz der staatlichen Ordnung

  1. 1
    Hermann says:

    Es wäre ja auch zuviel verlangt, solche Fragen schon einmal im Zwischenverfahren einem Versuch der Klärung zuzuführen. Statt dessen kostet die schlechte Vorbereitung des Gerichts die Staatskasse mehrere tausend Euro. Wir ham’s ja. Aber wehe, es beteht der Verdacht, ein Verteidiger könnte 30 Cent Kopien zuviel abgerechnet haben – dann holt die Justiz ihren teuer bezahlten Bezirksrevisor hervor, um ihren uneingeschränkten Sparwillen mit Nachdruck Geltung zu verschaffen…

  2. 2
    jdk says:

    Und wenigstens haben die beiden (noch nicht ganz) Eheleute jetzt die Chance, auch vor dem deutschen Recht eine gültige Verlobung einzugehen, so dass sich das dann sowieso alles erledigt hat.

  3. 3
    tomka says:

    Kann ja sein, dass man sich schwertut, hier eine Verlobung nachzuweisen, aber die Zeugin hat doch als Lebenspartnerin eindeutig ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 Abs. 1 Nr. 2a oder nicht? Wo ist also das Problem?

  4. 4
    Der Neue says:

    @ tomka:

    Ich meine, dass § 52 I Nr. 2a StPO den Lebenspartner iSd des Gesetzes über die Eingetragene Lebenspartnerschaft (LPartG) meint. Dementsprechend gilt es nur für eingetragene, gleichgeschlechtliche Lebenspartner, um eine Gleichbehandlung mit der Ehe bzw. dem Verlöbnis zu gewährleisten.

  5. 5
    egal says:

    Hermann, woher soll das Gericht wissen, dass irgendwo im Ausland irgendwann einmal vor einmal Geistlichen (vermutlich ohne Nachweise?) geschlossen wurde.

    Im Übrigen sehe ich eher den Schutzbereich von Art. 4 I GG als den von Art. 6 I GG hier eröffnet. Wenns keine Ehe nach dem deutschen zivilrechtlichen Gedankenbild der Ehe ist, kann man sich schließlich auch nicht auf Art. 6 I berufen bzw. verweisen.

    Warum wird eigentlich nicht der „Geistliche“ der „Trauung“ als Zeuge vorgeladen? Das dürfte doch der höchste Erkenntnisgewinn sein, ob ein Verweigerungsrecht überhaupt bestehen kann.

    Die Anführung der Kinder und des jahrelangen Zuammenwohnens ist übrigens kein Indiz für den Bestand einer Ehe, also überflüssig.

  6. 6

    Die Anführung der Kinder und des jahrelangen Zuammenwohnens ist übrigens kein Indiz für den Bestand einer Ehe, also überflüssig.

    Vielleicht aber für ein Eheversprechen, eine Verlobung (das/die unter dem Schutz des Art. 6 GG steht)? Erkennen Sie den Wertungswiderspruch: Dem (entfernten) Schwager billigt man das Zeugnisverweigerungsrecht zu, den beiden Eltern vierer Kinder, die seit 11 Jahren zusammen leben, nicht?

  7. 7
    Hannes says:

    Die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit noch so vielen gemeinsamen Kindern ist nun einmal – jedenfalls nach Ansicht des BVerfG – keine „Ehe“, es ist der Ehe auch nicht gleichgestellt, es ist keine „Verlobung“ und als solche (im Verhältnis der Eltern zueinander) nicht einmal eine „Familie“.

    Und dass das Gericht bezweifelt, dass die beiden wirklich seit 11 Jahren heiraten wollen, aber nicht können, ist doch wohl auch plausibel.

    Also eher kein flagranter Verstoß gegen Art. 6 GG.

  8. 8
    Claus says:

    Durfte mir heute noch eine Vorlesung zu Art. 6 anhöhren und muss gleich wieder feststellen: Alles was ich heute gelernt habe ist nur bedinkt gültig…

    (Jedoch ist doch wohl dies das Fastzinierende am Recht,oder?)

  9. 9
    Carl says:

    Dass so manches „Flurverlöbnis“ Argwohn und Misstrauen erregt – geschenkt. Aber bei dem Hagel an Indizien das Verlöbnis zu bestreiten ist für mein Empfinden ganz schön kühn.

    Schöner Rechtsstaat wenn die Legislativentscheidung (Verlöbnis steht eben noch in §52 I Nr.1 StPO) durch entsprechende Faktenwürdigung der Justiz keinen Schutzbereich mehr hat.

    C.

  10. 10
    A.N. says:

    @Claus: Ich finde Ihren Kommentar – nicht nur Art. 6 GG – aber auch fast zinierend. Oder sollte ich sagen gruselig?

  11. 11
    Jens says:

    Auch wenn mein Kommentar nur syntaktischer Natur ist … „Thema“ war doppelt, da müssen wir eins abziehen.

  12. 12
    Ben says:

    @A.N. Aber der Kommentar war doch auch „nur bedinkt gültig“. ;-) Solche intellektuellen Minderleistungen gab es unter dem 13-jährigen Schulsystem und in den unreformierten echten Studiengängen nicht. Aber inzwischen gilt, Hauptsache schnell irgendwie handeln, Denken ist nicht mehr zeitgemäß.

  13. 13
    werner says:

    Ach, diese Roma-Verfahren…