Der Mandant hatte gegen einen Strafbefehl Einspruch eingelegt. Folgerichtig setzt das Amtsgericht nun einen Termin zur Hauptverhandlung fest und schreibt dem Mandanten:
werden Sie als Angeklagter zur Hauptverhandlung geladen, nachdem Sie gegen den Strafbefehl vom 12.04.2010 Einspruch eingelegt haben.
Das Gericht hat Ihr persönliches Erscheinen angeordnet. Wegen der für Sie daraus entstehenden Folgen beachten Sie bitte die untenstehenden wichtigen Hinweise.
Ob sich der Richter über den Einsatz dieses Textbausteins irgendwelche Gedanken gemacht hat, geht aus der Akte nicht hervor. Jedenfalls hatte ich bereits im Ermittlungsverfahren und noch einmal in der Einspruchsschrift mitgeteilt, daß der Mandant sich durch Schweigen verteidigen wird.
Die „untenstehenden wichtigen Hinweise“ lauteten:
Wenn Sie bei Beginn der Hauptverhandlung nicht erschienen sind, Ihr Ausbleiben nicht genügend entschuldigt und für Sie auch kein schriftlich zu Ihrer Vertretung bevollmächtigter Verteidiger erschienen ist, muss das Gericht Ihren Einspruch verwerfen. Erscheint bei Beginn der Hauptverhandlung nur der Verteidiger, so kann das Gericht in Ihrer Abwesenheit zur Sache verhandeln, aber auch Ihre Vorführung oder Verhaftung anordnen.
Einmal abgesehen davon, daß es wohl wenig hilfreich ist, solche Hinweise an einen in der Regel juristisch ungeschulten Geladenen mit Migrantenhintergrund in einer derart verschwurbelten Formulierung zu geben und diese dann auch noch in einer Schriftgröße abzudrucken, die bereits bei einem gesunden 35-Jährigen den Griff zur Lesebrille auslöst: Rechtlich-inhaltlich ist an dem Hinweis nichts auszusetzen.
Der Mandant erscheint nicht und ich lege im Termin eine auf mich lautende Vollmacht vor, die mich zur Verteidigung des Mandanten in seiner Abwesenheit berechtigt.
Der Richter empfindet es als persönlichen Affront, daß der Mandant nicht erschienen ist. Die Amtsanwältin pflichtet ihm bei und beantragt die Verwerfung des Einspruchs. Ich habe nur da gesessen, ob dieser Unkenntnis eines hundert Jahre alten Standardfalls den Kopf geschüttelt, den „untenstehenden wichtigen Hinweis“ rezitiert und meinen Rechner runter gefahren.
Im schriftlichen Urteil heißt es:
Der Einspruch des Angeklagten gegen den Strafbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 12.04.2010 wird kostenpflichtig verworfen.
Aus den Gründen:
Der Angeklagte hat gegen den in der Urteilsformel bezeichneten Strafbefehl zwar rechtzeitig Einspruch erhoben, ist aber in dem heutigen Termin zur Hauptverhandlung ungeachtet der durch die Zustellungsurkunde vom 01.06.2010 ( Blatt 82) nachgewiesenen Ladung, ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben und auch nicht durch einen mit schriftlicher Vollmacht versehenen Verteidiger vertreten worden. Anhaltspunkte für das Vorliegen genügender Entschuldigungsgründe sind nicht ersichtlich. Der erhobene Einspruch war daher nach § 412 der Strafprozeßordnung zu verwerfen.
Noch so ein Textbaustein, den der ahnungslose Richter da verwandt hat. Ich war mit einer schriftlichen Vollmacht versehen! Und wenn der Richter mal in den Kommentar geschaut hätte, dann wäre in ihm auch die Erkenntnis gereift, daß das, was er da macht, Blödsinn ist, der auch nicht dadurch besser wird, daß ihn eine ebenso ahnungslose Amtsanwältin dabei unterstützt.
Nun, es gibt das Wiedereinsetzungsverfahren, und ich hatte die Hoffnung, daß mein Hinweis auf den Standard-Kommentar (Meyer-Goßner, 53. Auflage, § 411 Rdz. 4 m.w.N.) Erhellung bringt. Pustekuchen: Eine andere Richterin lehnte meinen Wiedereinsetzungsantrag ab.
Die (vollständig zitierten) Gründe:
Gründe für eine Wiedereinsetzung, die das Ausbleiben des Angeklagten im Hauptverhandlungstermin am 25. August 2010 entschuldigen würden, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Vielmehr war der Angeklagte seinen Darlegungen nach im Hauptverhandlungstermin bewusst abwesend und wollte in seiner Abwesenheit durch seinen Verteidiger gem. § 411 Abs. 2 StPO verteidigt werden.
Noch ein Textbaustein, der ohne Sinn und Verstand verwendet wurde. Man glaubt’s nicht.
Es folgte die Rechtsmittelbelehrung. Und meine Beschwerde, auf die das Landgericht Berlin (502 Os 140/10) die Wiedereinsetzung verfügte:
Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 4. Oktober 2010 aufgehoben. Dem Angeklagten wird […] Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung des Hauptverhandlungstermins vom 25. August 2010 gewährt.
Aus den Gründen:
Das Amtsgericht Tiergarten hat den Einspruch des Angeklagten gegen den Strafbefehl vom 12. April 2010 zu Unrecht nach § 412 Satz 1 StPO verworfen. Der Angeklagte konnte sich in der Hauptverhandlung vom 25. August 2010 durch seinen ausweislich des Sitzungsprotokolls mit schriftlicher Vollmacht versehenen Verteidiger vertreten lassen (§ 411 Abs. 2 Satz 1 StPO). Diesem Recht, sich vertreten zu lassen, stand die Anordnung seines persönlichen Erscheinens nicht entgegen (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 53. Auflage, § 411 Rn 4 m.w.N.).
Nichts anderes hatte ich dem Richter im Termin mitgeteilt und dann auch nochmal in dem Wiedereinsetzungsgesuch schriftlich formuliert. Aber mir glaubt ja keiner. Nun geht die Geschichte nochmal von vorne los. Und zwar wieder ohne den Mandanten, völlig egal, ob der Richter nun nochmal das persönliche Erscheinen anordnet oder nicht.
Vor dem Hintergrund des Niveaus, auf dem das Amtsgericht bisher gearbeitet hat, steht zu befürchten, daß der Einspruch dann erneut verworfen wird. Aber der Mandant hat Zeit …
Falls es so kommt wie angedeutet: Dienstaufsichtsbeschwerde als Merkhilfe für den Herrn Richter?
Haha, den Fall hatte ich in meinem Praktikum nach dem zweiten Semester auch ;-)
Ist nicht eher zu erwarten, dass dem Gericht irgendwas anderes „Doofes“ für den Angeklagten einfallen wird?!
Und solche Amtspersonen bekommen Ihr Brot durch unsere Steuergelder bezahlt. Einen Monat ohne Bezüge für beide, DAS würde helfen!!
Gratulation, Carsten.
Du bist Sand im Getriebe der Mühlen der Justiz.
„Aber mir glaubt ja keiner.“
:)
Man könnte vielleicht bei der Senatsverwaltung für Justiz nachfragen, ob in Berlin Amtsgerichte grundsätzlich aus finanziellen Erwägungen nicht mit Fachliteratur ausgestattet werden.
Glücklich ist,
wer vergißt,
was nun nicht zu ändern ist.
Das ist nicht gut. Wenigstens arbeitet das LG noch ordnungsgemäß. Hat der Mandant durch diese Aktion pekuniären Schaden nehmen müssen?
In der Tat seltsam, warum gerade zwar gestandene Juristen (Amtsanwalt und Richter) sich offenkundig gesetzeswidrig verhalten haben. Da hat Herr Steinmar aber Mist gebaut!
Wenn man sowas liest, graut es einem stets aufs Neue vor dem Bestreben mancher, sämtliche Rechtsbehelfe möglichst abzuschaffen…
Ich vermute mal, irgendwann wird wegen überlanger Verfahrensdauer eingestellt…
Abgesehen von den offensichtlichen Fehlern des Amtsgerichts:
– dass über alle möglichen Rechtsmittel, Erscheinungspflichten, Säumnisvorschriften u.a. richtig belehrt werden muss und daher Textbausteine verwendet werden, die nicht auf Migrationshintergrundkundschaft mit Leseproblemen zugeschnitten sind, liegt prinzipiell nicht an den Gerichten, sondern am Gesetzgeber. Kompliziertere Rechtsfolgen sind halt nicht unbedingt mit Dreiwortsätzen zu erklären.
– Mit seiner Ausweitung der Analogie (Anwendung 329 III bei fälschlich angenommener Säumnis; Wiedereinsetzung statt Berufung) ist das LG aber auch recht kreativ geworden. Denn dass eine fehlerhaft angenommene Säumnis (im Rahmen eines Berufungsverfahrens 329 III) nur mit der Revision angreifbar ist (und dementsprechend eine rechtsfehlerhafte Einspruchsverwerfung mit der Berufung) ist an sich auch im KK StPO nachlesbar (und z.B. Hamm StV 1997, 346). Vielleicht wollte man sich aber durch diese Analogie selbst ein bisschen Arbeit mit Berufungen ersparen….
*erm* Ja.
Wie der Klabauter schon richtig ausführt:
Sowohl das AG als auch das LG hat erheblichen Unsinn getrieben – und der Anwalt auch. Der Wiedereinsetzungsantrag ist eigentlich ein klassischer Haftungsfall – statthaft wäre alleine die Revision gewesen. Glück gehabt, daß das LG sich entweder für einen „Rechtsbehelf aufgrund greifbarer Gesetzeswidrigkeit“ durch die Hintertür entschieden hat oder selbst im Rechtsmittelrecht nicht ganz firm war.
Den „Haftungsfall“ umgeht der kundige Verteidiger, der auch die Rechtssprechungspraxis der Beschwerdekammern in solchen Fällen kennt, schlicht dadurch, daß er den WEA stellt und gleichzeitig „Rechtsmittel“ einlegt. Wird dem WEA stattgegeben, ist (wird) das Rechtmittel unzulässig. Wenn nicht, dann nicht. Das ist einfacher, als einen sinnvollen Kommentar zu schreiben, meinen Sie nicht? crh
Haftungstechnisch sicher die richtige Vorgehensweise des sichersten Weges´, durch den WEA den Instanzenzug zu sichern und durch das Rechtsmittel gegen Verwerfung des WEA abzusichern (entspricht ja auch dem Vorgehen bei OWi-Einspruchsverwerfung wegen Nichterscheinens. WEA und Rechtsbeschwerde).
Aber dass das schon Rechtsprechungspraxis der Berliner Beschwerdekammer(n) sein soll, geht aus dem LG-Beschluss mE nicht so ganz hervor.
Wenn das ständige Rechtsprechungspraxis der Gerichte sein soll, fresse ich…
… nun gut, man weiß nie, was einzelne Gerichte so anstellen. *hüstel* Hinsichtlich dieser Frage kann es aber m.E. kaum zwei Meinungen geben – das sollte den Richtern spätestens dann auffallen, wenn sie sich fragen, für welche Rechtshandlung denn Wiedereinsetzung gewährt werden soll.
Die Entscheidungsbegründung fällt jedenfalls reichlich seltsam aus – „Praktikabilität“ im Rechtsmittelrecht? „Instanzverlust“ trotz Möglichkeit der Revision? Seltsam, seltsam.
Insofern:
Wenn die Gerichte das tatsächlich mitmachen oder – noch schlimmer – ermutigen, ist der o.g. Vorwurf natürlich fallen zu lassen. Aus dem Posting war nicht der Eindruck entstanden, dass berliner Gerichte hier regelmäßig die Wiedereinsetzung zulassen. Dann trifft der einzige – dennoch gewichtige – Vorwurf natürlich die Gerichte. Sorry insoweit.
Abgesehen hiervon, tut weder das Eine noch das Andere zur Sache. Statuten hier, Statuten da, zu Recht oder zu Unrecht aufgestellt, angeordnet, gar fuer massgeblich erzwungen, wenn Angeordnetes gebrochen, sowie eine Massgeblichkeit welche sich wider das eigentliche Ereignis in Punkto Wichtigkeit brüsten darf, da ihr mehr Bedeutung zugeordnet wurde, wie dem Ereignis selbst, wonach das Verfahren dem Prinzipe nach, ja erst an Geltung gewann. Eine Schlappe fuer die „Juristerei“, traurig fuer das Recht selbst, vorzeitlich beerdigt worden zu sein.