Realitätsverlust

Die Staatsanwaltschaft hat ein Ermittlungsverfahren gegen „Unbekannt“ eingeleitet. Mit dem Lieferwagen unseres Mandanten soll ein Unfall verursacht worden sein. Der Fahrer soll sich unerlaubt vom Unfallort entfernt haben. Das sagte jedenfalls der Polizeibeamte, der bei unserem Mandanten zuhause vorstellig wurde.

Der Mandant hat richtig reagiert: Er hat sich gegenüber dem Polizeibeamten nicht geäußert und das polizeiliche Aktenzeichen notiert. Damit konnten wir uns dann bei der Polizei als Vertreter des Mandanten  melden und routinemäßig die Akteneinsicht beantragen.

Ich habe bewußt nicht die Verteidigung des Mandanten angezeigt, weil das Ermittlungsverfahren sich ja (noch!) nicht gegen ihn richtete, sondern gegen den unbekannten Fahrer. Die Standard-Verteidigungsanzeige, die ich in Ermittlungsverfahren an die Behörde schicke, wäre hier bereits eine Information zuviel, die von böswilligen peniblen Ermittlern zu Lasten des Mandanten gewertet werden könnte.

Ein „Vertreter“ ist nämlich noch kein „Strafverteidiger“, sondern könnte auch die zivilrechtlichen Interessen vertreten oder als Zeugenbeistand auftreten. Vorsicht ist auch bei der Strafverteidigung die Mutter aller Porzellanläden.

Über das Akteneinsichtsgesuch entscheidet nicht die Polizei, sondern die Staatsanwaltschaft. Dort arbeitet eine penible (siehe oben) Staatsanwältin, die mir folgenden Text übermittelt:

Ich weiß, daß diese Staatsanwältin nicht erst seit gestern ihren Job macht. Sie wird als alte Häsin wissen, daß Rechtsanwälte keine Verräter sind, egal, ob sie nun zivilrechtliche Bevollmächtigte, Zeugenbeistand oder Strafverteidiger sind. Die – über die Bande an den Mandanten gerichtete – Androhung des empfindlichen Übels „Fahrtenbuchauflage“ für den Fall der Verrats-Verweigerung ist bereits aus dieser Perspektive entbehrlich. Sie verursacht allein weiteren Beratungsbefarf beim Mandanten, mehr aber auch nicht.

Denn wenn der Mandant ein flüchtiger Fahrer gewesen sein sollte: Welches ist wohl das geringere Übel – die Fahrtbuchauflage oder eine Geldstrafe mit Entziehung der Fahrerlaubnis? Aber vielleicht hat die Ermittlerin auch nur geträumt. Die Akte jedenfalls haben wir mit Dank und ohne weiteren Kommentar zurückgesandt.

 

Dieser Beitrag wurde unter Staatsanwaltschaft, Strafverteidiger veröffentlicht.

3 Antworten auf Realitätsverlust

  1. 1
    Euphor says:

    Naja, man kannst ja mal versuchen, oder?

  2. 2
    Joerg says:

    Zudem kommt, dass die „Fahrtenbuchauflage“ ein relativ stumpfes Schwert ist.

    Aber Euphor hat Recht, die arbeiten nach der Methode, man kann es ja mal versuchen und vielleicht tappt eine runter 100 ja vielleicht sogar in die Falle.

    Aber mal ein Mandant, der schon gut „geschult“ war und nicht nur den Mund gehalten, sondern sich sogar das Aktenzeichen notiert hat. Ihre pädagogischen Bemühungen bleiben immerhin nicht ganz ohne Erfolg :-)

      Ich war vor meinem Jurastudium mal auf dem besten Wege, ein Lehrer zu werden. Das hat glücklicherweise nicht geklappt. Aber es ist einiges hängen geblieben. crh ;-)
  3. 3
    Werner says:

    „Vorsicht ist auch bei der Strafverteidigung die Mutter aller Porzellanläden.“ Soso, die war aber nicht vorsichtig genug, sonst wäre sie nicht Mutter geworden. :-)
    Aber trotzdem, wieder was gelernt: Schnauze halten, wenn’s auch schwer fällt.