Nein, ein Strafrichter nötigt nicht!

Der Strafrichter lädt zum Termin. Den Betroffenen, seinen Verteidiger und insgesamt 6 (sechs) Zeugen, teilweise auswärtige, morgens um 9:00 Uhr. Dem Richter ist bekannt, daß nicht nur der Betroffene, sondern alle Zeugen berufstätig sind.

Vordergründig geht es wohl darum, den Täter zu ermitteln. Der Betroffene bestreitet die ihm zur Last gelegte Tat. Das „Tat“-Foto ist aber nicht schlecht, man erkennt zumindest den Haar- und den Bartansatz. Und ein Ohrläppchen.

Der Verteidiger hat im Ermittlungsverfahren mitgeteilt, daß grundsätzlich auch einer der 6 (sechs) Zeugen möglicherweise, vielleicht, unter Umständen als Täter in Frage kommen könnte. Der Betroffene ist viel beschäftigt und die angebliche Tat ist schon zu lange her. Deswegen weiß er das nicht mehr. Und auf dem Bild erkennt er weder sich, noch sonst jemanden. Aber das Auto steht eigentlich jedem zur Verfügung, der in dem Haus ein- und ausgeht, in dem sie alle arbeiten.

Da wird sich der Richter – das unterstelle ich mal wohlwollend – gedacht haben, man hört sich mal an, was die Zeugen zu erzählen haben. Vielleicht ist ja jemand dabei, der ein besseres Gedächtnis hat und/oder auf dem Foto den Täter wiedererkennt.

Denn ich kann es nicht glauben, daß der Richter die Zeugen nur deswegen geladen hat, um den Betroffenen zu nötigen, seinen Einspruch gegen den Bußgeldbescheid zurück zu nehmen. Nein, auf solche abwegigen Gedanken kann ein Richter gar nicht kommen.

Schade. Es ist leider nicht mein Mandant. Und ich bin auch nicht der Verteidiger. Deswegen wird es nun auch nicht zu einer Beweisaufnahme kommen, die sich – z.B. wegen Verhinderung, Krankheit und Urlaub einzelner Zeugen – über 6 (sechs) Hauptverhandlungstermine hinzieht.

Dieser Beitrag wurde unter Richter veröffentlicht.

16 Antworten auf Nein, ein Strafrichter nötigt nicht!

  1. 1
    Werner says:

    Was soll der Richter Ihrer Meinung nach machen, wenn er weiß, dass Betroffener und Zeugen berufstätig sind? Abends oder am Wochenende verhandeln?

    Und natürlich darf es nicht sein, dass banale Verkehrsverstöße stets ungeahndet bleiben, wenn der Betroffene sich auf dem Foto nicht wiedererkennen will. Wenn er sich das auf seine Kosten in 6 HV-Terminen beweisen lassen will, dann muss das eben manchmal sein.

    • „Straf“-Verfolgung auf Teufel-komm-raus wollte bereits unser freundlicher Gesetzgeber gern vermieden sehen, deswegen hat er sich den § 47 II OWiG ausgedacht. Das ist doch ganz klug nachgedacht, oder?

      Noch ergänzend zur Geschichte und aufgehängt an Ihrem Hinweis „banal“: Es geht um eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 21 innerorts. Da könnte der Richter – vielleicht auf dem Beschlußwege, § 72 OWiG – auch auf die Idee eines klein-wenig erhöhten Toleranzabzugs kommen und bei 20 km/h landen. Das gäbe dann 35 Euro und keine Punkte … crh

  2. 2
    roflcopter says:

    Wer weiß wieviele Verkehrsverstöße schon vorliegen. Manchmal will man bei einem „Serientäter“ eben nicht den erhöhten Toleranzabzug.

    • Ich weiß: Null Flens. crh
  3. 3
    meine5cent says:

    Sorry, wieso soll der Richter bei bestrittener Fahrereigenschaft (die Zeugen wurden schließlich vom Betroffenen selbst/seinem Verteidiger ins Spiel gebracht) die Tatsachenfeststellungen zur Geschwindigkeit etwas biegen? Wenn Sie so argumentieren hat allenfalls der Verteidiger versucht, das Gericht durch den Beweisantritt zu nötigen. Von daher großes Plus für einen Richter, der sich nicht erpressen lässt, nur weil „auf Teufel komm raus“ verteidigt wird.
    Die Ladung aller Zeugen auf die gleiche Uhrzeit ist zwar im Allgemeinen eine zeitvernichtende Unsitte. Wenn es aber um die Übereinstimmung mit dem „Tat“Foto geht, durchaus angebracht, um alle Alternativtäter gleichzeitig zu sehen und vergleichen zu können.

  4. 4
    BV says:

    Ich stimme meine5cent zu. Wenn die Verteidigung – natürlich völlig berechtigt – Zweifel streut und potenzielle Zeugen benennt, um das Verfahren möglichst aufwendig und nervig zu machen, darf sie sich doch nicht beschweren, wenn das Gericht nicht die erhoffte Einstellung verfügt, sondern den Weg einfach mitgeht.

    Über § 72 OWiG hätte man gleichwohl möglicherweise mal nachdenken können.

  5. 5
    Ingo says:

    Der freundliche Gesetzgeber hat den OWi-Richtern ganz nette Ermessensvorschriften zur Verfügung gestellt, damit diese ein OWi-Verfahren nicht in perpetuum durchziehen müssen. Da gibt es auf der einen Seite den § 47 II OWiG, den ich großartig finde, und auf der anderen Seite den § 77 II OWiG, den ich weniger großartig finde (und den man so einigen Richtern besser mal wegnehmen sollte). Aber beides sind natürlich Ermessensvorschriften, von denen der Richter Gebrauch machen kann, aber nicht muss.

    Wenn ein Richter nun bei einem Verstoß knapp oberhalb der Eintragungsgrenze bei einem nicht vorbelasteten Betroffenen es für notwendig erachtet, gleich 6 Zeugen zu laden, deutet das m. E. darauf hin, dass er die Verteidigung eben beim Wort nimmt (die Geister die ich rief…) und vielleicht auch zum Ausdruck bringen möchte, dass er mit der Verteidigungsstrategie nicht so ganz einverstanden ist.

    Ich selbst hätte den Betroffenen vielleicht auch eher einfach schweigen lassen (soll ihn der Richter dorch mal revisionssicher identifizieren), anstatt mehr oder weniger ins Blaue hinein mutmaßliche Alternativtäter zu benennen. Aber das ist natürlich Geschmacksache.

    • Das schiere Schweigen des Betroffenen gegenüber der Bußgeldbehörde hinsichtlich der Fahreridentität führt hier in Berlin in der Regel zur Fahrtenbuchauflage. Wenn der Mandant – wie hier – eben diese unbedingt vermeiden möchte, muß entsprechend vorgetragen werden. Das ist für den Verteidiger dann keine Geschmacksfrage, sondern eine Frage der Risiko-/Nutzen-Abwägung, die der Mandant – nach vorheriger Beratung – vollziehen muß. Mit solch irrwitzigen(?) Reaktionen eines kleinen Bußgeldrichters muß man dann aber wohl auch rechnen. crh
  6. 6
    Willi says:

    Wie ist das eigentlich in dem Fall als vorgeladener Zeuge mit meinen Kosten?
    Ich muss – sagen wir mal – 800 km anreisen, ob der Zeit eine Übernachtung buchen, habe ggf. 2 Tage Arbeitszeitausfall… da kommt doch leicht ein Tausender an Aufwand bei raus. Wer ersetzt mir den?

  7. 7
    Ingo2 says:

    Wer schreibt hier unter Ingo? Bodenlose Frechheit :)

    Ich kann den Befund von Herrn Hoenig aber auch nicht so wirklich bestätigt finden. Selbst wäre ich wohl auch so vorgegangen. Anders, wenn es um einen nicht eintragungsfähigen Verstoß gehandelt hätte.

    Geladen hätte ich die Zeugen wohl auch und in der HV dann gehört. Hätte das kein klares Ergebnis ergeben, hätte ich wohl eingestellt. Im Punktebereich ja, außerhalb nein.

    Es hätte aber auch Alternativen gegeben:
    Z.B. diejenige nach § 69 Abs. 5 OWiG. Man hätte das Verfahren zurückverweisen können und der Verwaltungsbehörde aufgeben, die Zeugen schriftlich zu befragen. Hätten sie bestritten oder sich ausgeschwiegen, wäre an § 47 II OWiG zu denken gewesen; nach vorheriger Prüfung, ob ausreichende anthropologische Merkmale für ein Gutachten vorhanden sind.

    Ich verstehe indes auch nicht, warum hier sechs Alternativfahrer benannt wurde. Drei hätten m.E. auch ausgereicht. In Fällen, in denen der Fahrer nicht erkennbar ist, benenne ich i.d.R. zwei oder drei alternative Fahrer, die dann allesamt angeben, sie könnten ihre Fahrereigenschaft nicht bestätigen aber auch nicht ausschließen.

    Außerdem: Was soll denn das mit dem Fahrtenbuch? Das tut doch keinem weh. Die drei Eintragungen für maximal ein Jahr macht man doch mit links. Wieso solche Angst vor dem Fahrtenbuch?

    @Willi: Die (tatsächlich entstandenen) Zeugenauslagen muss vorliegend der Betroffene ersetzen, wenn er den Einspruch zurücknimmt.

  8. 8
    Willi says:

    @ingo2

    Die (tatsächlich entstandenen) Zeugenauslagen muss vorliegend der Betroffene ersetzen, wenn er den Einspruch zurücknimmt.

    Heißt das also, wenn bei demjenigen nichts zu holen sein sollte (was jetzt bei OWi Sachen vielleicht nicht so häufig ist, bei "normalem" Strafrecht aber doch recht häufig sein dürfte) schaut man dann also in die Röhre?

  9. 9
    Ingo2 says:

    Nein, denn die Zeugenentschädigung wird bei der Staatskasse beantragt und ausgezahlt. Diese wiederum „holt“ sich die von ihr verauslagte Zeugenentschädigung vom Betroffenen „zurück“.

  10. 10
    Georg says:

    Ich kann nicht ganz nachvollziehen, wie der Richter anders hätte vorgehen sollen.

    § 47 OWiG ist als Ermessensvorschrift doch nicht dazu gedacht, schwierige Verfahren durch eine Einstellung zu beenden. Immerhin sind wir hier im eintragungspflichtigen Bereich und ich möchte den Aufschrei, der durch die Blogg- und Presselandschaft geht hören, wenn Publik würde, dass ein Richter jedes komplizierte OWi-Verfahren durch Einstellung beendet. Ich kann die Empörung aus Verteidigersicht also verstehen …. aus der Sicht eines Organs der Rechtspflege finde ich sie grenzwertig.

    Was die Entscheidung im Beschlusswege betrifft würde es mich wundern, wenn der nicht ausdrücklich widersprochen worden wäre. Das steht doch in jedem Standartschriftssatz drin.

  11. 11
    Ingo2 says:

    Der Entscheidung im Beschlussverfahren muss man nicht per Standardschriftsatz widersprechen, denn das ist nach der Rechtslage unnötig. Will der Richter durch Beschluss verurteilen, muss er ohnehin nachfragen (und förmlich zustellen!), dann reicht es, auf die Nachfrage den Widerspruch zu erklären. Will er freisprechen, ist der Widerspruch ohnehin unbeachtlich und er kann es einfach tun.

    Und § 47 II OWiG dient sehr wohl auch der Herstellung der Verfahrensökonomie. Wenn ersichtlich ist, dass die Sachverhaltsaufklärung außer Verhältnis zu der Anlasstat steht, kann die Einstellung geboten sein. Diese Grenze sehe ich hier aber (noch) nicht erreicht. Bei eintragungspflichtigen Verstößen kann man durchaus auch mal aufwändiger ermitteln.

  12. 12
    Kai says:

    Ich dachte eigentlich, dass ein Gerichtstermin nicht mehr zu ermitteln dient, wer der Täter sein könnte oder ob der Verdächtige der Täter ist.

    Gibt es das jetzt häufiger?

  13. 13
    mascha says:

    Als stiller „Mitleser“ dieses Blogs bot sich mir schon oftmals die Gelegenheit, mir selbst hin und wieder die Realitaetscheck-Frage zu stellen. So auch hier: Das Befahren des Princess Freeways hier in Melbourne mit einer um 3 km/h ueberhoehten Geschwindigkeit (105 km/h anstatt 100 km/h unter Beruecksichtigung eines Toleranzabzugs von 2 km/h) fuehrte zu einem Bussgeldbescheid i.H.v. AUD 230,00.

    Wenngleich mein Beispiel weder aus tatsaechlichen noch rechtlichen Gruenden eine Massgeblichkeit fuer das im Beitrag von Herrn Hoenig beschriebene Geschehen besitzt, so zeigt dieses dennoch sehr plakativ die sehr verschiedenen Wertvorstellungen die hinter den entsprechenden Bussgeldregelungen stecken. In der Abwaegung zwischen der persoenlichen Freiheit des mit ueberhoehter Geschwindigkeit Fahrenden und der koerperlichen Unversehrtheit anderer Verkehrsteilnehmer soll nach Ansicht des hiesigen Regulators der letzteren ueberwiegendes Gewicht zukommen. Diese Entscheidung wurde augenscheinlich ueber den Zeitraum der Existenz jener teilweise rigiden Strafen vom Adressatenkreis weitestgehend antizipiert – d.h. man „folgt“ im grossen und ganzen den Regeln und sollte man erwischt werden, zahlt man eben. Die Energie und Vehemenz, die wir Deutschen – insbesondere mit anwaltlicher Hilfe – in die Verteidigung unseres automobilen Fehlverhaltens stecken, ertaunt hier mehr als dass es anerkennend gewuerdigt wird. Wenngleich ich aufgrund meiner Herkunft als auch meiner beruflichen „Vorbelastung“ der hier im Blog geschilderten Vorgehensweise rational durchaus zu folgen vermag, empfinde ich die hiesige Herangehensweise wesentlich „menschenfreundlicher“ da jene ihren positiven Einschlag in der Unfallfolgenstatistik deutlich manifestiert.

  14. 14
    mascha says:

    Hmmm … leider kann ich meinen Beitrag nicht mehr editieren, in den sich ein/zwei „schmerzhafte“ Fehler eingeschlichen haben. Vielleicht koennte Sie zumindest aus der „ueberhoeten“ eine „ueberhoehte“ Geschwindigkeit und aus dem „manifiestiert“ ein „manifestiert“ machen – dann koennte ich mit meinem Beitrag so einigermassen leben :-) Vielen Dank und viele Gruesse an mein geliebtes Berlin …

    • Ich habe hier noch ein paar alte, gut funktionierende Tastaturen liegen. Mit „ö“- und „ß“-Tasten. Soll ich die mal nach unten durchreichen? ;-) crh
  15. 15
    Ingo2 says:

    Ohne die Diskussion jetzt bis zum St. Nimmerleinstag führen zu wollen (das habe ich jahrelang bis zum Erbrechen getan), ein kleiner Einwand noch.

    Nicht die Überschreitung einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit führt zu erhöhter Gefährdung für höherrangige Rechtsgüter. Eine Geschwindigkeitsbegrenzung bringt nur trügerische Sicherheit. Es können auch Unfälle bei deren Einhaltung passieren; ebenso kann ein Fahren deutlich über ihr auch im Einzelfall keine Gefahrsteigerung begründen.

    Eine erhöhte (abstrakte oder konkrete) Gefährdung höherrangiger Rechtsgüter tritt erst ein, wenn die Fahrgeschwindigkeit, unabhängig von der geltenden begrenzung, für die jeweils vorliegende Situation unangemessen ist. Ein Fahren mit 130 bei 100 kann wesentlich sicherer sein als ein Fahren mit 30 bei 30 vor einem Kindergarten, bei dem Kinder auf den gehwegen umher tollen.

    Jede pauschale Betrachtung der Verwerflichkeit von Geschwindigkeitsüberschreitungen verbietet sich m.E. daher.

  16. 16
    auchautofahrer says:

    „Jede pauschale Betrachtung der Verwerflichkeit von Geschwindigkeitsüberschreitungen verbietet sich m.E. daher.“ Well said, Ingo2! Viele werden das aber nie kapieren.