Journalistische Inkompetenz

Ich war interessiert daran, was der Tagesspiegel zu dem nun anstehenden Zwischenverfahren gegen Christian Wulff zu vermelden hat. Doch als ich diese Sätze in dem Artikel von Jost Müller-Neuhof gelesen hatte …

Sollte seine Anklage wider Erwarten vom Gericht gestoppt werden, wäre nicht seine Unschuld belegt, sondern nur die fragliche Nachweisbarkeit des Schuldvorwurfs. Ein Grund zu triumphieren wäre das nicht. Gleiches gilt für einen späteren Freispruch zweiter Klasse, im Zweifel für den Angeklagten. Denn aus dem Geschehen erwiesene Unschuld zu destillieren, dürfte auch wohlmeinenden Richtern schwerfallen.

… habe ich aufgehört zu lesen. Der Journalist hat von dem, was er dort schreibt, ganz leicht erkennbar keine Ahnung.

Weder werden Anklagen „gestoppt“, noch hat eine Nichtzulassung der Anklage etwas mit der Schuldfrage des Angeschuldigten zu tun.

Es geht an dieser Stelle des (Zwischen-)Verfahrens auch nicht um die „Nachweisbarkeit des Schuldvorwurfs“, sondern um die Frage, ob die Anklageschrift den Anforderungen des Strafprozeßrechts genügt oder nicht.

Das Gericht wird nach Zulassung der Anklage und nach der dann durchgeführten Beweisaufnahme einen etwaigen Freispruch auch nicht „klassifizieren“. Denn es gibt nur einen Freispruch, der besagt, daß die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat nicht mit rechtsstaatlichen Mitteln nachzuweisen ist. (Ich dachte, das hätte die Journaille spätestens nach dem Kachelmann-Verfahren begriffen.)

Schon einmal gar nicht ist es Aufgabe eines Richters, irgendwas zu „destillieren“. In einem Strafverfahren geht es – jedenfalls unter dem hier interessierenden Aspekt – ausschließlich um die Frage des Schuldnachweises. Gelingt der Nachweis nicht, ist der Beschuldigte unschuldig.

Eigentlich ganz einfach. So einfach, daß das auch ein Jost Müller-Neuhof verstehen sollte.

Lieber Tagesspiegel, eine Voraussetzung für qualitativ hochwertige Berichterstattung ist auch die Kompetenz der Journalisten, die die Berichte schreiben. Daran solltest Du arbeiten.

Dieser Beitrag wurde unter Medien, Strafrecht veröffentlicht.

18 Antworten auf Journalistische Inkompetenz

  1. 1
    Bert Grönheim says:

    Auch immer wieder zu lesen und zu hören: Anzeigen, die gestellt werden statt erstattet. Diese Woche gabs ein Gericht, das Anklage erhebt. Endlich mal weniger Bürokratie.

  2. 2
    TT says:

    Der Mann wird beim Tagesspiegel auch noch als Justiz-Experte geführt.

  3. 3
    titus_shg says:

    Na ja, der Titel „Experte“ ist nun mal nicht gesetzlich geschützt. :)

    Sonst hätten bestimmte politische Parteien sicher auch nicht so viele -teilweise völlig unfähige- „(Spezial-)Experten“. :)

  4. 4

    Wer weiß, welches Destillat dem guten Mann das vernebelt hat, was andere im Kopf haben.

  5. 5
  6. 6
    ui-ui-ui says:

    Naja, ÖffR und nicht Strafprozessrecht.

  7. 7
    Tibor Schober says:

    Naja, der SPON war gestern auch nicht besser …

    http://www.spiegel.de/politik/deutschland/christian-wulff-staatsanwaltschaft-erhebt-anklage-gegen-wulff-a-893979.html

    Der Vorwurf lautet auf Bestechlichkeit: Die Staatsanwaltschaft Hannover hat Anklage gegen den früheren Bundespräsidenten Christian Wulff erhoben. Ein Schuldeingeständnis gegen Zahlung einer Geldstrafe hatte der Politiker abgelehnt.

    Ich bin immer wieder erstaunt, welch Murks es auf SPON gibt…

  8. 8
    Tibor Schober says:

    Jetzt heißt es übrigens endlich:

    Der Vorwurf lautet auf Bestechlichkeit: Die Staatsanwaltschaft Hannover hat Anklage gegen den früheren Bundespräsidenten Christian Wulff erhoben. Die Einstellung des Verfahrens gegen Zahlung einer Geldauflage hatte das ehemalige Staatsoberhaupt abgelehnt.

  9. 9
    Jens says:

    Aber die Presse hat Wulff doch schon längst überführt. Damit tritt doch automatisch die neue Macht der Presse ein: Wer überführt ist, der ist auch schuldig. Gerichte brauchen wir nicht mehr, die sind doch nur teurer Luxus.

  10. 10
    Axel Knittweis says:

    Na ja immerhin ist der inkompetente Journalist offensichtlich sogar als Rechtsanwalt zugelassen.
    Die FU Berlin gibt zu seiner Person an:
    Rechtspolitischer Korrespondent, Der Tagesspiegel;
    Rechtsanwalt;
    Lehrbeauftragter für Rechtskommunikation am Fachbereich Rechtswissenschaft seit 2002

    Und in Berlin ist laut rechtsanwaltsregister seit 08.02.2000 auch ein Rechtsanwalt mit dem Namen zugelassen.

  11. 11
    Axel Knittweis says:

    Da wird man dem tagesspiegel wohl kaum einen Vorwurf machen können, einen Journalisten als Justizexperten zu beschäftigen der Lehrbeauftragter im Fachbereich Rechtswissenschaft einer deutschen universität ist und dazu noch in Deutschland als Rechtsanwalt zugelassen ist.
    Hier stellt sich dann eher die Frage wer prüft die Kompetenz der Lehrbeauftragten und Rechtsanwaelte…….

  12. 12
    HD says:

    Aus dem Zitat einen Mangel an Kompetenz herauslesem zu wollen, halte ich für nicht überzeugend. Der Text richtet sich nicht an ein Fachpublikum, sondern an eine breite Leserschaft. In diesem Zusammenhang sind untechnische Umschreibungen nicht erlaubt, sondern der besseren Verständlichkeit halber sogar geboten. Deshalb finde ich es unschädlich, wenn der Artikelverfasser von einem die Anklage „stoppen“ schreibt. Was die Klassifizierung von Freisprüchen betrifft, muss gesagt werden, dass Juristen eine solche Klassifizierung nicht vornehmen. Aber wenn ich als Privatmann erfahre, dass es jemand geschafft hat, zehnmal wegen Betruges angeklagt zu werden und dann hinterher aus tatsächlichen Gründen freigesprochen zu werden – bei dem würde ich vorsichtig sein, Unschuldsvermutung hin oder her. Für die Öffentlichkeit ist eben doch von Interesse, ob nun die Unschuldsvermtung gegriffen hat oder erweislich Unschuld vorliegt.

  13. 13
    Jurist says:

    In dem Zwischenverfahren spielen Täterschaft und Schuld des Beschuldigten sehr wohl eine Rolle. Das Hauptverfahren wird nur eröffnet, wenn der Beschuldigte hinreichend verdächtig ist (§ 203 StPO). Der Ausdruck „stoppen“ ist zwar nicht juristisch, aber der Artikel richtet sich ja auch nicht speziell an Juristen. Ich finde die Formulierung daher völlig in Ordnung. Dass das Gericht den Freispruch als zweitklassig qualifiziert, steht in dem zitierten Absatz nicht. Dass viele Menschen faktisch (nicht rechtlich) zwischen Freispruch erster und zweiter Klasse unterscheiden, ist doch nun mal ein Fakt. Natürlich ist die Formulierung unglücklich, aber jeder weiß doch, was mit einem Freispruch zweiter Klasse gemeint ist. Dass das Wort „destillieren“ hier nicht wörtlich gemeint ist, sondern als Metapher verwendet wird, halte ich zudem für offenkundig und auch völlig in Ordnung.

  14. 14
    Malte Sommerfeld says:

    Egal, ob der Autor Jurist oder irgendwas anders ist: Diese Berichterstattungen sind der Grund dafür, dass Freigesprochene von vielen Menschen nicht so behandelt werden, wie es ihr Recht ist. Als unschuldig.

  15. 15
    „Anonym“ o. Ä. says:

    Toll, dass es mal jemand ausspricht.

    Selbst moralisch gesehen gilt zu 99 % für mich in diesem Falle der derjenige als unschuldig.

    Denn nicht umsonst haben wir diese rechtlichen Regelungen geschaffen, damit wir uns an etwas halten können und uns nicht wie wir Lust haben willkürlich die „Rosinen rauspicken“.

    Aber der Fall Kachelmann bewies, dass die Unschuldvermutung wohl nur noch etwas aus der Geschichte ist.

  16. 16
    Denny Crane says:

    Ganz falsch ist sind die Ausführungen im Hinblick auf § 203 StPO ja nicht. Aber was den Freispruch „zweiter Klasse“ angeht, so sind auch ausgewachsene Strafkammervorsitzende vor dummen Sprüchen nicht gefeit.

    Zitat eines hiesigen Strafkammervorsitzenden, nachdem sich erwiesen hat, daß der Angeklagte die vorgeworfene „Tat“ zwar begangen hatte, diese aber gar keinen Straftatbestand erfüllte: „Das ist ein Freispruch dritter Klasse. Das Verhalten war zwar nicht strafbar, aber moralisch verwerflich….“

    Gegen so einen juristischen Unsinn sind viele Prozeßberichte Gold.

  17. 17

    Ich weiß so, wo von Sie reden – mein aktueller Blog (http://blog.hannovercontex.de/) beschäftigt sich exakt mit dem Thema. Immer und immer wieder versucht man bei den Damen und Herren von der Presse den Finger in die Wunde zu legen – aber sie hören nicht zu oder verstehen es nicht oder weiß ich was … Und ich war selber mal zehn Jahre Gerichtsreporter – ich hätte damals für so viel Unsinn einen Tritt von meinem Chefredakteur bekommen. Und zwar mit Recht.

  18. 18
    LAWchenman says:

    Dass es seitens der Justiz sehr wohl Freisprüche zweiter Klasse gibt, hat das Kachelmann-Verfahren doch bewiesen. Der dortige Richter machte ja keinen Hehl daraus.

    Herrn Wulff würde ich nur zu gerne verurteilt sehen (wenn „normale“ Beamte nicht einmal sich zu einem Kaffee einladen lassen dürfen, sind 400,- € ja schon richtig viel Geld), aber diese Vorverurteilung der Presse, wie sie ganz allgemein derzeit zu erleben ist, ist kaum mehr zu ertragen.