Es relativ einfach für einen Polizisten, sich daneben zu benehmen. An einem ziemlich gut dokumentierten Beispiel wird das deutlich.
Am 7. Januar 2005 um ca. 8:30 Uhr wurde der Beschuldigte von der Polizei festgenommen. § 128 Abs. 1, § 163c Abs. 1 StPO und § 38 Abs. 1 SOG LSA schreiben die „unverzügliche“ Vorführung vor einen Richter bzw. das „unverzügliche“ Herbeiführen einer richterlichen Entscheidung vor.
„Unverzüglich“ heißt im Lichte des Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG, daß die richterliche Entscheidung ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen läßt, nachgeholt werden muß.
Wenn also kein Grund für eine Verzögerung gegeben ist (wie in dem diesem Blogbeitrag zugrunde liegenden Fall), heißt „unverzüglich“: SOFORT! Wartet der Polizeibeamte bis 12:00 Uhr, ist das weder „sofort“, noch „unverzüglich“, sondern geeignet, den Vorwurf der Freiheitsberaubung durch Unterlassen (§ 239 StGB, § 13 StGB), zu begründen.
Genauso einfach ist es aber, die Ehre des Polizeibeamten zu retten.
Das funktioniert über den Begriff der Kausalität. Wenn das „Unterlassen der Vorführung vor einen Richter“ nicht ursächlich dafür ist, daß der Beschuldigte in Haft bleibt, ist das gemütliche Abwarten eben nicht strafbar.
Also blickt man in die Kristallkugel und schaut, was der Richter angeordnet hätte, wenn ihm der Beschuldigte vorgeführt worden wäre.
Hier kommt einmal mehr das Prinzip der Hohen See (*) zum Tragen. Wenn man nicht vorhersehen kann, wie der – unabhängige(!) – Richter entscheiden wird, weil der nämlich einen Beurteilungsspielraum hat, muß dies im Zweifel für den Polizeibeamten berücksichtigt werden. Das bedeutet, der an sich rechtswidrige Raub der Freiheit ist nicht strafbar, weil nicht auszuschließlich ist, daß der Richter die Freiheit ohnehin entzogen hätte.
Ich überlege noch, wie ein Fall aussehen muß, in dem sich ein Polizeibeamter nach diesen Kriterien einer Freiheitsberaubung wirklich ernsthaft strafbar machen kann. Wenn mir einer einfällt, melde ich mich.
Für den, der sich das Ganze einmal juristisch korrekt formuliert anschauen möchte – bitte sehr: BGHSt 4 StR 473/13 (Pressemitteilung m.w.Links), bearbeitet von Karsten Gaede bei HRRS (HRRS 2014 Nr. 1026)..
(*): Coram iudice et in alto mari sumus in manu Dei.
Der BGH schreibt: „Jedoch entfällt die Kausalität eines solchen Unterlassens, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass der zuständige Richter bei unverzüglicher Vorführung und rechtmäßiger Entscheidung die Fortdauer der Freiheitsentziehung angeordnet hätte.“
Der Blogautor macht daraus: „Der Raub der Freiheit ist nicht strafbar, wenn nicht auszuschließen ist, daß der Richter die Freiheit ohnehin entzogen hätte.“
Fällt der Unterschied jemandem auf?
„Wenn mir einer einfällt, melde ich mich. “
Wird das Blog jetzt geschlossen? ;)
Wie sähe es mit Versuch aus, wenn der Polizist es als jedenfalls möglich ansah, dass der Richter die Freilassung anordnen würde?
@Jemand: Selbstverständlich würde ein solcher Polizist sich nicht mehr daran erinnern können, dass er jemals so etwas Absurdes gedacht haben könnte.
Überhaupt ist sehr interessant zu sehen, wie vergesslich und unwissend Polizisten sind, wenn sie das Rechte andere mit Füßen treten, und wie sie damit davonkommen.
Bei einer Infoveranstaltung der „Initiative Oury Jalloh“ wurde neulich erzählt, wie bei einer abermaligen Verhandlung im Fall Befragungen der Polizisten durch die StA ganz gern mal so eingeleitet wurden: „Na, daran können sie sich doch bestimmt nicht mehr so genau erinnern.“
Im Übrigen empfehle ich ein Radio-Feature: Oury Jalloh — die widersprüchlichen Wahrheiten eines Todesfalls.
Die Strafbarkeit käme in Betracht, wenn der Richter keine Haft anordnen würde oder einen Haftbefehl gleich gegen Auflagen außer Vollzug setzen würde. Dann hätte der Beschuldigte unnötig lage bei der Polizei gesessen. Klar dürfte auch sein, dass so ein Verfahren schnell nach § 153 StPO eingestellt wäre.
Ich frage mich auch, ob es ein Bedürfnis für die Strafbarkeit im Fall der Haftanordnung gibt. Das Argument mit der mangelnden Kausalität klingt doch nicht so schlecht. Besteht den ein echtes Bedürfnis für eine Strafbarkeit?
Man könnte noch über einen strafbaren Versuch nachdenken, wenngleich es dabei natürlich auch Schwierigkeiten mit dem Vorsatz geben wird.
Auch gerne gemacht:
Ich war am Münchner Hauptbahnhof zu einem auswärtigen Gerichtstermin in Mü. Identitätsfeststellung…
Mit Anwaltsausweis ausgewiesen, was denen aber nicht genug war. Perso rausgesucht und Hopp: „Den nehmen wir mit“ und dann musste ich auf die Wache mitkommen. Tasche durchsucht, durch die Mandanten-Akte geblättert.
Und zum Schluß hat die Staatsanwaltschaft die Anzeige von mir mit der Behauptung eingestellt, ich sei freiwillig mitgekommen…
@ BV
In „Die Nackte Kanone“ erklärt der Protagonist, er habe ein paar Menschen überfahren, aber spätere habe sich glücklicherweise herausgestellt, dass es Drogendealer gewesen seien.
So ähnlich liegt der Fall hier:
Man hat einfach mal jemanden ohne richterliche Anordnung weggesperrt, aber glücklicherweise stellte sich später heraus, dass ein Richter das auch so angeordnet hätte.
Das Ergebnis mag richtig sein. Aber das Verfahren, der Weg dahin ist so verkorkst, dass die Richtigkeit des Ergebnisses das eigentlich nicht mehr vollständig heilen kann.
Eine Versuchsstrafbarkeit ist m. E. da ein passender Ansatz. Schade, dass der BGH das nur sehr kurz angerissen hat – wieso er keinen Versuch annimmt, bleibt so recht offen.
@patenter_anwalt: das ist hier halt in München so. da werd’hoit zuglangt. Wenn Se nicht freiwillig die Mandantenakte durchblättern lassen, sind Se auch ganz schnell bei ’nem Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Außerdem ham‘ Se noch Glück gehabt: Erst die Akte zum Durchbättern anbieten und freiwillig mitkommen und dann Anzeige stellen, kann auch ganz schnell falsche Verdächtigung und üble Nachrede sein.Also danken Sie bitte Gott, dass alles so gut ausgegangen ist.
@Papageno
„Fällt der Unterschied jemandem auf?“
Der Unterschied ist, daß der Blogautor über den konkreten Fall hinaus die Argumentation des BGH weitergedacht hat. Im Fall Oury Jalloh hat der BGH aufgrund der von Ihnen zitierten Überlegung die Kausalität positiv ausgeschlossen. In anderen Fällen wird aber – darauf will Herr Hoenig offensichtlich hinaus – der Zweifelssatz, der hier keine Rolle spielte, zugunsten des Polizeibeamten eingreifen. In wieder anderen Fällen wird man den Vorsatz verneinen müssen, wenn es – so der BGH – nicht auf die formelle richterliche Genehmigung ankommt, sondern auf die materielle Genehmigungsfähigkeit.
Die Entscheidung des BGH könnte in diesem Punkt von der bisherigen Rechtsprechung abgewichen sein. Im Urteil vom 24.06.2009 – 1 StR 201/09 – hat der 1. Strafsenat in Bezug auf eine Freiheitsentziehung, die auf dem Verstoß gegen Verfahrensrecht beruhte, gesprochen vom „Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung […], der rückwirkend nicht mehr zu heilen ist“.
Das Problem hat ja noch eine ganz andere Komponente. Ich stelle mir die Gedanken des Richters vor: „Hm, was mache ich denn jetzt mit dem? In Haft lassen oder freilassen? Ist ja ein Grenzfall. Na ja, lassen wir ihn halt frei. … Aber Moment mal, hat der sich eben nicht beschwert, dass es so lang gedauert hat, bis er mir vorgeführt wurde? Nicht, dass da noch was nachkommt und die armen Polizisten Ärger kriegen. Also zur Sicherheit erst mal drinlassen, damit denen keine Freiheitsberaubung vorwerfen kann.“
@ O. Garcia:
Weiterdenken ist im Prinzip nicht verkehrt. Richtung und Ergebnis widersprechen hier aber der klaren Aussage des BGH (in Rn. 78 der Urteilsgründe).
Die von Ihnen zitierte Stelle aus BGH 1 StR 201/09 hat mit der hier aufgeworfenen Frage der Kausalität beim unechten Unterlassensdelikt nicht das Geringste zu tun.
@Papageno
„Weiterdenken ist im Prinzip nicht verkehrt. Richtung und Ergebnis widersprechen hier aber der klaren Aussage des BGH (in Rn. 78 der Urteilsgründe).“
Sie haben recht.
„Die von Ihnen zitierte Stelle aus BGH 1 StR 201/09 hat mit der hier aufgeworfenen Frage der Kausalität beim unechten Unterlassensdelikt nicht das Geringste zu tun.“
Das ist ja klar, aber das habe ich auch nicht behauptet. Worum es geht, ist vielmehr: Nach der Lösung des BGH kommt es – im Ergebnis – für die Frage der Strafbarkeit nicht auf die formelle richterliche Genehmigung der Freiheitsentziehung, sondern auf ihre materielle Genehmigungsfähigkeit an. Der Verstoß gegen den Richtervorbehalt ist also – so haben wir nun gelernt – nicht strafbewehrt. Das ist im Kern Hoenigs Kritik, wenn ich es richtig sehe.
Der Weg, auf dem der BGH das erreicht, ist Freiheitsberaubung durch Unterlassen statt durch Tun zu prüfen. Ich halte diese Weichenstellung (HRRS-Rdn. 60) für fragwürdig. Es erscheint mir gekünstelt, bei dem „für den Gewahrsamsvollzug verantwortlichen Polizeibeamten“ so zu tun, als hätte er mit der Freiheitsentziehung eigentlich nichts zu tun und wäre wie ein von außen kommender Retter nur in der (Garanten-)Pflicht, gegen die Freiheitsentziehung etwas zu tun. Tatsächlich hatte der Angeklagte die Tatherrschaft über die Hinderung des Inhaftierten, hinauszuspazieren.
Ich frage mich, ob der BGH nicht zwei Pflichten vermengt hat: Die Pflicht des Amtsträgers, keine rechtswidrige Freiheitsentziehungen aufrechtzuerhalten (Tun) und die jeweilige konkrete Pflicht, bestimmte Verfahrensschritte einzuhalten (Unterlassen). Zweifelhaft erscheint mir die (unausgesprochene) Annahme des BGH, daß eine richterlich angeordnete Freiheitsentziehung keine Freiheitsberaubung wäre. Ist es nicht vielmehr so, daß sie tatbestandsmäßig im Sinne des § 239 StGB ist, aber gerechtfertigt? Wäre es anders, müßte man sich fragen, ob es in Fällen wie http://dejure.org/2013,24106 eine mittelbare Täterschaft gibt.
Hintergrund der argumentativen Windungen des BGH ist offensichtlich die Architektonik der Straftatbestände: Während für die einfache fahrlässige Tötung § 222 StGB einen Strafrahmen einem Monat bis zu fünf Jahren vorsieht, aber auch Geldstrafe hergibt (wie sie hier für richtig gehalten wurde), ist dem Gericht bei einer fahrlässigen (§ 18 StGB) Tötung, die sich im Rahmen einer rechtswidrigen Freiheitsberaubung ereignet, ein Strafrahmen von 3 bis 15 Jahren vorgegeben (§ 239 Abs. 4 StGB). Wer das als Richter im konkreten Fall für unangemessen hart hält, wird kreativ.
Die Logik lässt sich ja weiterdenken und auch für den Normalbürger nutzbar machen:
Polizist: „Ihre HU-Plakette ist seit zwei Monaten abgelaufen! Kostet 25.- Euro!“
Autofahrer: „Nö, wieso 25.- Euro? Es ist ja nicht auszuschließen, dass ein TÜV-Prüfer meinen Wagen für mängelfrei befunden und ihm die Plakette aufgeklebt hätte.“
Und ja, ich weiß sogar als Nichtjurist: Strafrecht ungleich OWi-Recht… ;-)
[…] Middelhoffs Revision zuständige) 4. Strafsenat des BGH im Fall Oury Jalloh hatte: Nach seiner (allerdings durchaus zweifelhaften) Entscheidung vom 4. September 2014 (4 StR 473/13) ist ein Polizist dann nicht wegen […]