Wissenszuwachs auch nach 20 Jahren Erfahrung

Frisch aus der Beweisaufnahme vor einer Wirtschaftsstrafkammer.

Szene:
Zeugenbelehrung, Hinweis auf die Wahrheitspflicht und dann noch eine Ergänzung.

Richter:
Herr Zeuge, Sie müssen hier nicht aussagen, wenn Sie sich selbst oder einen nahen Angehörigen belasten.

Verteidiger:
Ich reklamiere die Belehrung; sie entspricht nicht den Anfordernugen des § 55 StPO!

Richter:
Das ist doch ungeheuerlich, daß Sie mich hier bei der Belehrung unterbrechen.

Verteidiger:
Die Belehrung ist aber falsch und gerade hier in diesem Fall kommt es auf die richtige Belehrung an.

Richter:
Die Belehrung ist richtig, das mache ich seit 20 Jahren so.

Verteidiger:
Dann machen Sie es seit 20 Jahren falsch, Herr Vorsitzender. Lesen das Gesetz!

Richter:
[verliest § 55 StPO]:

Jeder Zeuge kann die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihm selbst oder einem der in § 52 Abs. 1 bezeichneten Angehörigen die Gefahr zuziehen würde, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden.

[bockig-zornig:]Aber das habe ich doch gesagt!

Verteidiger:[mit erhobener Stimme]
Nein, so haben Sie das nicht gesagt. Bereits die Gefahr, daß gegen den Zeugen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden könnte, führt zum Aussageverweigerungsrecht. Sie haben den Zeugen aber belehrt, daß er nur dann die Aussage verweigern darf, wenn er sich selbst belastet.

Das ist etwas anderes und es ist falsch!

Richter: [LAUT]:
Das ist doch ungeheuerlich! Seit 20 Jahren …

Staatsanwalt und Mitverteidiger:
Der Verteidiger hat Recht, Herr Vorsitzender; die Gefahr eines Ermittlungsverfahrens reicht bereits.

Richter: [schaut nochmal ins Gesetz …]
Na gut, dann machen wir es jetzt eben prozeßordnungsgemäß.

Verteidiger:[höflich]
Besten Dank, genau so hatte ich mir das Verfahren eigentlich auch vorgestellt.

Richter:
[Belehrung wie in § 55 StPO]

Zeuge:
Ich mache von meinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch.

Zum Hintergrund:
Der Zeuge gehörte wohl zu der Gruppe der möglicherweise Geschädigten. Da er aber keine Schadensersatzansprüche geltend gemacht hatte, kam er aus (der von der Verteidigung nicht ganz ohne Anhaltspunkte vermuteten) Sicht der Staatsanwaltschaft auch als Gehilfe in Betracht; deswegen ja erfolgte überhaupt die (falsche) Belehrung nach § 55 StPO noch vor der Vernehmung.

Dieser Beitrag wurde unter Richter, Zeugen veröffentlicht.

16 Antworten auf Wissenszuwachs auch nach 20 Jahren Erfahrung

  1. 1
    RA Kujus says:

    Schönster Satz / Erkenntnis des Vorsitzenden: „Na dann machen wir es jetzt prozessordnungsgemäß“

  2. 2
    g.ast says:

    1) Was ist der Unterschied zwischen “belasten” und “etwas sagen, was ein Ermittlungsverfahren nach sich ziehen könnte”? Das Bundesverfassungsgericht zB verwendet das synonym (zB BVerfG 2 BvR 504/08 Rn. 18, 25, 27, 28).

    2) Versteht ein Laie “etwas sagen, was ein Ermittlungsverfahren nach sich ziehen könnte” wirklich besser als “belasten”?

  3. 3
    Karsten Koch says:

    Aus eigener Strafrichter-Erfahrung muss ich leider sagen, dass die ordnungsgemäße Belehrung nach § 55 StPO ausgenommen schwierig ist. Man kann es sich leicht machen, und den Gesetzeswortlaut verwenden. Aber dann kann man sich – wie bereits gesagt – ziemlich sicher sein, dass der Zeuge nicht weiß, auf welche Fragen er antworten muss und auf welche nicht. Denn er kann nicht wissen, wann die Einleitung eines Verfahrens droht und wann nicht. Und das kann eigentlich auch der belehrende Richter nicht, denn das hängt von der Staatsanwaltschaft und ihrer Einschätzung der Aussage ab. Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist wirklich nur, das Wort »Selbstbelastung« zu benutzen und dabei zu erklären, dass es ausreicht, wenn die Aussage belasten »könnte« (nicht nur den Zeugen selbst, sondern einen der in § 55 StPO genannten Angehörigen). Und dem Zeugen vielleicht noch zu sagen, dass eine Aussage auch dann diese Wirkung haben könnte, wenn er selbst das anders einschätzt. Aber dann wird’s schon wieder so kompliziert, dass der Zeuge innerlich abschaltet und die Juristen mit ihrer verdammten Sprache verflucht. Deshalb gibt es in komplizierten Situationen ja auch den anwaltlichen Zeugenbeistand. Der ist genau dafür gedacht, dem Zeugen zu helfen, diese schwierigen Fragen im Einzelfall so zu beantworten, dass ihm kein Nachteil daraus erwachsen kann.

  4. 4
    Stefan says:

    Ich würde als Zeuge am besten NIE was sagen. Die Gefahr, dass irgendeiner das dann so dreht, dass es auf einen selber zurückfällt, ist immer gegeben.

  5. 5
    T.H., RiAG says:

    @Stefan

    Ihr Wunsch ist zwar verständlich, allerdings sollten sie vor seiner Umsetzung rein vorsorglich doch mal einen Blick auf § 70 StPO werfen.

  6. 6
    T.H., RiAG says:

    Verteidiger schimpfen (manchmal sogar zurecht :-) ) ja gerne, dass es für einen Richter doch nicht so schwer sein kann, richtig nach § 55 StPO zu belehren. Man hat allerdings nicht nur Volljuristen im Zeugenstand, und das von Herrn Koch beschriebene Phänomen, nach einer Belehrung in ein fragend-fassungsloses Zeugengesicht zu blicken, kommt häufiger vor als man denkt. Soll eine „Szeneangehöriger“ zu einer Schlägerei unter Alkoholikern befragt werden muss man häufig schon froh sein, wenn er a) den Termin nicht vergisst und b) halbwegs nüchtern erscheint. Den dann so zu belehren, dass es sowohl der Prozessordnung entspricht als auch vom Zeugen verstanden wird, ist in der Tat nicht ganz einfach, es sei denn er ist einer Tatbeteiligung so verdächtig, dass man ihm ruhigen Gewissens ein „an Ihrer Stelle würde ich den Mund halten“ nahebringen kann. DAS versteht jeder.

  7. 7
    Jens says:

    Wurde der Zeuge dann entlassen?

    Ein Fehler den meines Erachtens die meisten Richter machen ?

    1. Gibt es bekanntlich kein Recht die gesamte Aussage zu verweigern. Sondern nur die Teile der Aussage für die eine strafrechtliche Verfolgung droht.

    2. Ist die Verweigerung erst der Einstieg in die Vernehmung, vgl. P. 56 StPO. Die Berechtigung ist glaubhaft zu machen. Sonst droht Ordnungsgeld s.o.!

    Aber unsere Richter haben viel zungroße Angst vor BGH, OLG oder Kammergericht

  8. 8
    T.H., RiAG says:

    @Jens

    Es gibt „bekanntlich“ durchaus Situationen, in denen aus Sicht des Zeugen jedes Wort eines zuviel sein kann, schauen Sie mal in die Kommentierung im KK. Angst vor dem BGH habe ich übrigens nicht; es ist der Vorteil des kleinen AG-Lichts, dass er Instanzenzug vorher endet. Und vor dem OLG muss auch nur Angst haben, wer etwas falsch macht…

  9. 9
    felix says:

    Hier wurde also mal wieder ein Prozesstrick benutzt, um einen wahrscheinlich Schuldigen freizuboxen. Ob solche Tricks wirklich zum Anwaltsberuf gehören, bezweifle ich doch ernsthaft.
    Selbst dem Herrn Anwalt sollte doch klar sein, dass das Vorlesen von § 55 StPO sehr viele Zeugen überfordert und eine Erklärung wie es der Richter gemacht hat deutlich besser ist in solchen Situationen. Dann hätte man den Zeugen aber nicht einschüchtern können….

  10. 10
    benjamin says:

    Wie ist das eigentlich? Kann die Berufung auf §55 StPO selbst schon ein Ermittlungsverfahren begründen? Man gibt dadurch ja bekannt, daß unter gewissen Umständen ein Verwandter oder der Zeuge selber was ausgefressen haben könnte (nur das wer, wann und was wäre unbekannt).

  11. 11

    […] Wis­sens­zu­wachs auch nach 20 Jah­ren Erfah­rung Kol­laps in Karls­ruhe? Die bes­ten Jur­a­Blogs 2014 – Die Gewin­ner Miss­hand­lun­gen: Das all­täg­li­che Ver­sa­gen des Kin­der­schut­zes Mil­des Hoyerswerda-Urteil als „maka­ber“ kri­ti­siert Die Anfor­de­run­gen an die sog. Ver­dachts­be­richt­er­stat­tung Gen­der Income Gap bei Auf­trags­kil­lern Ent­we­der oder steht nicht im Grund­ge­setz Frei­mau­rer infil­trie­ren spür­bar die Jus­tiz How I Lost My $50,000 Twit­ter User­name […]

  12. 12
    jurLaie says:

    Gibt es keine Möglichkeit zu überprüfen, ob der Zeuge sich zu Recht auf sein Zeugnisverweigerungsrecht beruft?

    Bspw. durch den Richter, der den Zeugen, nachdem er sich auf sein Zeugnisverweigerungsrecht beruft, in das Richterzimmer bittet und sich unter vier Augen erklären lässt, weshalb der Zeuge meint sich auf sein Zeugnisverweigerungsrecht berufen zu können?

  13. 13
    rakuemmerle says:

    @felix: Diese „Tricks“ stehen alle in der Strafprozessordnung. Bekanntermaßen ein Gesetz voller trickreicher Anleitungen, z.B. auch für Vernehmungsbeamte. It´s not a Trick, it´s a rechtsstaatliches Verfahren. (Kopfschüttelmodus aus)

  14. 14
    jk says:

    jurLaie:
    Das Zeugnisverweigerungsrecht unter Richtervorbehalt zu stellen, halte ich weder für praktisch umsetzbar noch in irgendeiner Form mit dem Rechtsstaat vereinbar.

    Wenn der Richter wirklich davon überzeugt ist, dass der Zeuge sich hier eindeutig nur vor einer Aussage drücken will, hat er die notwendigen Druckmittel.

    Aber wenn der Zeuge dem Richter erklärt hat, WARUM er sich auf das Zeugnisverweigerungsrecht beruft, ist irgendwie völlig gaga. Dann weiß der Richter ja schon, was der Zeuge ihm gesagt HÄTTE.

    Dann wäre es ehrlicher, das Zeugnisverweigerungsrecht direkt abzuschaffen.

    Siehe Großbritannien. Da ist man verpflichtet, sich selbst zu belasten. Pflicht zur Passwortherausgabe.

  15. 15
    jurLaie says:

    @jk:
    Richtig, der Richter kennt dann u.U. die Aussage, die der Zeuge im Zeugenstand getätigt hätte.
    Diese Situation ähnelt aus meiner Sicht aber der eines Beweisverwertungsverbots bei Tagebuchaufzeichnungen. Auch dort kennt man, die Schilderungen des Tatablaufs, kann sie aber nicht gegen den Angeklagten verwerten.

    Generell gilt ja, dass um etwas gegen den Angeklagten verwenden zu können, es zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werden muss. Das Vier-Augengespräch bleibt somit grundsätzlich außen vor bzw. hat außen vor zu bleiben (wie Tagebuchaufzeichnungen). Egal, ob man es besser weiß.
    Diese Fähigkeit – Tatsachen außen vor zu lassen, die nicht Gegenstand der Hauptverhandlung waren – darf man von einem Richter erwarten.

  16. 16
    jansalterego says:

    @ jurLaie: Das Problem ist, dass es zwar dem konkret Angeklagten helfen mag, wenn die Zeugenaussage-zwecks-Glaubhaftmachung-des-Zeugnisverweigerungsrechts nicht Gegenstand der HV geworden ist. Der Richter kann dann aber in einer erneuten HV gegen den sich selbst belastet habenden Zeugen wiederum als Zeuge befragt werden, sodass sich zumindest der Zeuge durch die Glaubhaftmachung auch in diesem Szenario ins Knie geschossen hätte.
    Der Vergleich mit den Tagebuchaufzeichnungen hilft leider auch nicht weiter, zumal es gerade bei Tagebuchaufzeichnungen – anders als bei Selbstgesprächen – kein uneingeschränktes Verwertungsverbot gibt.