Wann darf ein Betroffener (im Bußgeldverfahren) oder ein Angeklagter (im Strafverfahren) der Verhandlung fern bleiben, obwohl er ordnungsgemäß geladen wurde? Diese Frage beschäftigen immer mal wieder Gerichte und Verteidiger.
Grundsätzlich gilt – Achtung: Schönes Wort! – die Erscheinenspflicht.
Wer Grundsatz sagt, meint Ausnahmen. Die Ausnahme von dieser Pflicht besteht nach landläufiger Sicht in der Verhandlungsunfähigkeit. Wer verhandlungsunfähig ist, muß nicht verhandeln. Kann also entschuldigt der Gerichtsverhandlung fernbleiben.
Das wird von meinen Mandanten schon mal mistverstanden: Sie legen mir bzw. dem Gericht eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor. Wer arbeitsunfähig ist, ist nicht „automatisch“ auch verhandlungsunfähig – man denke beispielsweise an den eingegipsten Arm einer Berufspianistin. Klavierspielen geht nicht mehr, wohl aber Fragen beantworten oder sich zum schweigenden Stillsitzen entscheiden.
Die Grenzen sind aber fließend. Und es hängt einmal mehr von dem Bein ab, mit dem der Richter morgens früh aus dem Bette gestiegen ist. Eine Richterin am Amtsgericht Tiergarten ist dabei aber auf dem falschen Fuß erwischt worden: Das Kammergericht (Beschluss vom 18.03.2015, Az. 3 Ws (B) 58/15 – 162 Ss 11/15) hat ihre Entscheidung aufgehoben, weil ihr der Fußweg vom Richtertisch zum Telefon im Beratungszimmer zu weit war.
In dieser Entscheidung steht ein bemerkenswerter Satz, den ich nun in unsere Textbausteinsammlung übernehmen werde:
Bestehen Anhaltspunkte für eine Erkrankung des Betroffenen ist sein Ausbleiben nicht erst dann entschuldigt, wenn er verhandlungsunfähig ist. Es genügt vielmehr, dass ihm infolge der Erkrankung das Erscheinen vor Gericht nicht zuzumuten ist. Darüber hinaus kann ein Betroffener auch in subjektiver Hinsicht entschuldigt sein, etwa weil er im Vertrauen auf ein ärztliches Attest davon ausgegangen ist, ein Erscheinen sei ihm krankheitsbedingt nicht zuzumuten (vgl. KG Berlin, 3. Senat für Bußgeldsachen, NZV 2002, 421 m.w.N.).
Manchmal reicht dann doch ein ärztliches Attest über die Arbeitsunfähigkeit, sofern es in salbungsvolle Worte eines Strafverteidigers eingekleidet wird.
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Bild: © Petra Bork / pixelio.de
Wenn die vom Kammergericht angewendete Sichtweise von Angeklagten/Betroffenen und Verteidigern auf die Spitze getrieben wird, führt der Gesetzgeber irgendwann die Amtsarztpflicht für Verhandlungsunfähigkeitsbescheinigungen ein. Damit wäre dann auch keinem geholfen.
@ Freddy Krueger:
Das wiederum scheint ja genau das zu sein, was das AG hier durch die Hintertür einführen wolte. Denn was soll der Mandant hier noch machen? Er hat ja schon ein Attest (und keine simple AU) mit Diagnose eingereicht.
Hoffentlich beschwert sich angesichts dieser Mätzchen niemand mehr über zu lange Gerichtsverfahren. Denn auch wenn dieses Attest möglicherweise berechtigt war, sind 99 Prozent der Atteste (ebenso wie bei Prüfungen) gefakt und behindern Straf- und Zivilverfahren.