Was bedeutet es, wenn ein Richter seine Entscheidung mehrfach mit der leeren Worthülse der „allgemeinen Lebenserfahrung“ begründet?
Der Kollege Jan H. Gerth aus Oerlinghausen berichtet in einem Blogbeitrag über das Urteil des AG Köln vom 01.12.2014, Az. 125 C 466/14. Der Richter setzt sich darin mit einer Frage zum Urheberrecht und den daraus korrespondieren Ansprüchen auseinander.
Ich habe vor einigen Jahren eine ähnliche Untat begangen wie der in dem Urteil beschriebene Junggänseverkäufer; und daraus gelernt. Mich interessierte nun die Entscheidung, weil ich das Ergebnis der juristischen Prüfung mit dem Ergebnis der außergerichtlichen Einigung in meinem Fall vergleichen wollte.
Nach der Lektüre der Entscheidung stelle ich mir die Frage nach deren Werthaltigkeit. An zwei Stellen der „Begründung“ (ist es eine solche?) fällt der Begriff „allgemeine Lebenserfahrung“ auf. Ein vergleichbarer Ausdruck ist die „kriminalistische Erfahrung„, der mir als Strafverteidiger häufiger begegnet.
Was steckt dahinter?
Der Duden definiert den Begriff als: „Erfahrung durch das Leben und für das Leben.“ Wessen Erfahrung und wessen Leben? Die bzw. das des Richters, der den Begriff bemüht, um seine Entscheidung scheinbar zu begründen? Ist diese (seine eigene?) Erfahrung objektivierbar und auf einen anderen, konkreten Fall übertragbar?
Ich will nicht in’s Philosophische abdriften.
Mir geht es darum aufzuzeigen, daß dieser stolze Richter (sich) ein Urteil gebildet hat und ihm nun die Argumente fehlen, um diese Entscheidung zu begründen. Kraft seiner (Amts-)Autorität behauptet er schlicht, daß „es“ so sein muß, wie er „es“ sich vorstellt. Warum das so sein muß und nicht anders … diese Erklärung bleibt der – insoweit hilflose – Richter seinen Lesern schuldig. Das ist klassische iura de ventre, wie der Altgrieche sagt.
Vergleichbares
veranstalten Strafermittler, die mit ihrer „kriminalistischen Erfahrung“ argumentieren fabulieren, und entgegenstehende Vorträge als „bloße Schutzbehauptung“ zu disqualifizieren versuchen.
Liebe Leser:
Immer wenn Sie auf solche hohlen Allgemeinplätze stoßen, sollten Sie vermuten, daß dem Autor knackige, belastbare Argumente fehlen und er wertlose, maximal heiße, oft nur lauwarme Luft produziert. Also: Ab in die Tonne mit dem Urteil aus Köln, das leider nicht mehr angreifbar sein dürfte. Vielleicht konnte sich der Richter (wie alt ist der eigentlich?) genau deswegen so um eine ernst zu nehmende Begründung herum mogeln.
Update:
Daß der Fall genau so liegt, wie es mir mein insoweit laienhafter Bauch signalisiert hat, und diese Entscheidung tatsächlich auch aus anderen Gründen schlichter Mist ist, beschreibt der Kollege Dr. Martin Bahr aus Hamburg mit gerade noch hanseatischer Zurückhaltung:
Die Entscheidung des AG Köln steht nicht im Einklang mit der instanzgerichtlichen Rechtsprechung des OLG Köln und kann daher nur als vollkommen abwegig beurteilt werden. […] Hier scheint man in Köln im Dezember besonders intensiv Karneval gefeiert zu haben. Anders lassen sich diese Ausführungen kaum erklären.
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Bild: © Gerd Pfaff / pixelio.de
Aus der eigenen anwaltlichen Erfahrung heraus? Und das Zweifel im StR zugunsten des Beschuldigten zu wirken haben ist gut und richtig, aber wie sollen Zweifel im UrhR sich auswirken? Also muß der Richter sich doch irgendwie ne Meinung bilden, weil er ja am AG schlecht sagen kann: „Dazu kann ich mir leider keine ausreichend faktenbasierte Meinung bilden.“ Und wenn er dann (vielleicht absichtlich) gegen die höherinstanzliche Rspr- verstößt, so das die sich darum kümmern müssen, aber jetzt fabuliere ich ..
Die auch von Dr. Bahr angesprochene Frage des Streitwerts für das Unterlassungsbegehren wurde geklärt und der Wert für das Verfahren auf € 3.000,00 festgesetzt (LG Köln, B. v. 08.01.2015 – 28 T 1/15).
Die MFM–Empfehlungen werden auch anderswo aus vergleichbaren Gründen nur für gewerbliche Fotografen für anwendbar gehalten (z..B. LG Berlin, Urt. v. 30.07.2015 – 16 O 410/14).
So richtig trifft Ihre Kritik daher nicht.
Das habe ich schon verstanden. Nur sowohl die Bemessung des Verfahrenswerts als auch die Schätzung eines (insbesondere imateriellen) Schadens sind doch dem Zivilrchtler das, was dem Strafrechtler die Strafzumessung ist. Haben Sie da schon einmal eine fundierte Begründung gefunden, die sich nicht mehr oder weniger ihn Le(e/h)rformel erschöpfte? Mit den aufgezeigten Aspekten wollte ich lediglich darauf aufmerksam machen, dass die Entscheidung jedenfalls nicht derart neben einem vertetbaren Rahmen liegt, wie die Anmerkungen es vermitteln. Allein für sich selbst einmal versuchen eine sinnvollfe Begründung (für welches Ergebnis auch immer) zu verfassen zeigt die Probleme deutlich.
Einzig die Verweis auch (vermeintliche) Teilung von erbeuteten Gebühren liegt sicherlich neben der Sache.
Kann es sein, dass es Ihnen gar nicht um die Leerformel der „allgemeinen Lebenserfahrung“ geht, sondern dass sie verwendet wird, um etwas Ihnen nicht passendes zu begründen?
Komplett heisst es im Urteil:
Ich kann schon verstehen, wenn es aus Ihrer Sicht gerade nicht die allgemeine Lebenserfahrung ist, wonach sich Anwalt und Mandant „die Beute“ teilen. Das dürfte eher weniger oft der Fall sein und schon passt die allgemeine Lebenserfahrung – offenkundig – nicht mehr.
Gleichwohl gibt es durchaus Fälle, wo diese „spezielle allgemeine Lebenserfahrung“ zutrifft, ebenso wie nicht selten die kriminalistische Erfahrung. Denn: es gibt ersichtlich auch (Abzocker-)Anwälte, die mit den Mandanten wirklich gemeinsame Sache machen und Jugendlichen das Hemd ausziehen wollen. Kann man doch nicht ignorieren!
Die Kammern reagieren auf Beschwerden zumeist nur mit ein wenig Geblubber, es passiert auch bei berechtigten Beschwerden fast nie etwas.
Ich hatte mal einen Notar, der unberechtigt einen ganz erheblichen Geldbetrag von mir wollte. Aus einer Beurkundung, in dem der Notar wissentlich und vorsätzlich Tatsachen falsch beurkundet hatte, was mit einem einzigen Blatt Papier bombenfest beweisbar war. Er hat sich dann am Ende selbst einen Titel ausgestellt und vollstreckt. Weder Kammer noch Staatsanwaltschaft hat die vorsätzliche Falschbeurkundung und der damit versuchte – sogar mittels Gerichtsvollzieher vollendete – Betrug gekümmert. Erst im Zivil(beschwerde)verfahren beim OLG ist ihm die Sache um die Ohren geflogen inklusive dann rotem Deckel. Selbst Notare müssen nicht immer „sauber“ sein. Die Kammer hat das im Übrigen bis heute nicht gekümmert!
Wer kann es also einem Richter verdenken, wenn er die Redlichkeit mancher Abmahnabzo … anwälte in Frage stellt?
So, und nun höre ich auf, mich weiter über diese Kölner Karnevalisten in Richterroben zu ärgern. crh
Für eine gegenteilige anwaltliche Sichtweise vgl. RA Vetter:
Die pauschale Unterstellung, Abmahnanwälte teilten gewohnheitsmäßig die erlangten Gebühren mit ihren Mandanten, halte ich ebenfalls für eher dubios. Aus welcher angeblichen Lebenserfahrung zieht der Richter diese Erkenntnis?
Ansonsten hat der Richter allerdings auch so manchen Punkt durchaus realistisch gesehen. Zum Beispiel darf man davon ausgehen, dass die Honorare nach der MFM-Tabelle sehr viele professionelle Fotografen sehr glücklich machen würden – in ihrem Berufsalltag bekommen sie sie jedoch kaum einmal tatsächlich überwiesen. Die zugestandenen 20 Euro für die Hobbyfotografin würden auch zahlreiche fotigrafierende Tageszeitungsreporter als reelles Bildhonorar ansehen.
Mittlerweile dürften ja etwa 90 % der zivilrechtlichen Streitfälle außergerichtlich erledigt werden. Einer der Gründe dafür ist, dass die Qualität der erstinstanzlichen Urteile in Zivilsachen durch den faktischen Wegfall der Berufungsinstanz nicht gerade gewachsen ist. Belastend tritt hinzu, dass Personal abgebaut und nicht hinzugefügt wurde. Das vorliegende Urteil dürfte binnen etwa einer halben Stunde zustandegekommen sein.
Dass bei einem Schaden von 20 € deutlich über 200 € Abmahnkosten verlangt werden können, das ist nun wirklich auch nicht gerade die Sternstunde der deutschen Rechtsprechung. Wie hoch der Streitwert denn nun wirklich ist, bleibt wahrscheinlich für immer unklar.
Warum werden 1000 € angesetzt für etwas, das kaum einen wirtschaftlichen Nutzwert hat, und obendrein noch in einem Fall, in dem die klägerischen Interessen kaum tangiert werden?
Nebenbei: nach allgemeiner Lebenserfahrung sieht es eher so aus, dass das kollusive Zusammenwirken von Rechtsanwalt und Mandant, um sich die Beute zu teilen, eher als Straftatbestand gewertet wird.
Ihr Beitrag ist interessant, weil er den Punkt trifft, ohne die Sache selbst zu berühren.
Das Urteil wurde zwar von anderer Stelle gelobt (u. a. RA Vetter). Grundsätzlich ist der Streitwert in Höhe von 2.000 € auch angemessen und tatsächlich handelt es sich bei 6.000 € um einen Streitwert, dem man nicht unbedingt zustimmen muss. Er erscheint überhöht und es stellt sich immer die Frage, inwieweit der Kläger sein dahingehendes Interesse auch substantiiert.
Gleichwohl ergreift das AG Köln in seinem Urteil Partei, ohne dass es dazu angerufen worden wäre.
Es entspricht nämlich bestimmt nicht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass Urheberrechtsinhaber und Rechtsanwälte „erbeutete“ Beträge unter sich aufteilen. Das ist nichts anderes als eine Unterstellung, für die es keinen Beleg gibt. Im Großen und Ganzen hat das Gericht hier nichts anderes als hohle Phrasen von sich gegeben, die im Grunde eine Frechheit sind.
Wie hoch ist denn nun der Streitwert? Null Euro, 20 €, 1000 €, 2000 €, oder gar 6000? Oder der Wert der Klageforderung? Das wahre Leben ist wirklich etwas durcheinander.
Das würde mich auch interessieren. Gibt es Neuigkeiten zu diesem Fall?