Bloggende Rechtsanwälte kennen diese Norm sehr genau: § 353d StGB. Diese Norm verbietet unter anderem, aus einer Anklageschrift wörtlich zu zitieren, bevor sie in öffentlicher Hauptverhandlung verlesen wurde. Dazu gibt es nun ein ganz interessantes Problem, dass an mich herangetragen wurde.
Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen Wilhelm Brause, Gottfried Gluffke, Bulli Bullmann und Mütterchen Mü. Alle vier Angeschuldigte sind der Reihe nach in der Anklageschrift aufgezählt. Sie sollen gemeinschaftlich irgenwelchen Unsinn gemacht haben, der irgendwie verboten sein soll.
Das Gericht stellt auf Hinweis der Verteidigung fest, dass Mütterchen Mü vorübergehend verhandlungsunfähig ist. Damit gegen die anderen drei aber verhandelt werden kann, wird das Verfahren gegen Mü abgetrennt und nach § 205 StPO vorübergehend eingestellt.
Gegen Brause, Gluffke und Bullmann eröffnet das Gericht und beginnt die Hauptverhandlung. Nach Aufruf der Sache verliest der Anklageverfasser, also der Staatsanwalt, die Anklage. Und zwar vollständig, bis auf den Namen und die Personalien von Mütterchen Mü.
Wenn man sich nun einmal den Gesetzestext vor Augen hält: Bestraft wird, wer …
… die Anklageschrift […], ganz oder in wesentlichen Teilen, im Wortlaut öffentlich mitteilt, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert worden […] ist.
… könnte sich der Staatsanwalt nach § 353d StGB strafbar gemacht haben. Denn schließlich hat er die Anklageschrift, in der Mütterchen Mü eine Straftat vorgeworfen geworfen wurde, bereits in der öffentlichen Hauptverhandlung gegen Brause, Gluffke und Bullmann verlesen. Und zwar größtenteils. Faszinierender Gedanke, nicht? 8-)
Ich frage für einen Freund. ;-)
Das ursprüngliche Bild (Bücherrücken) war von © Tim Reckmann via pixelio.de. Er verschickt aber auch Rechnungen für die Veröffentlichungen seiner Photos, deswegen habe das Bild vom Server genommen und entsprechend ersetzt.
Da brauchen Sie den Umweg über Mütterchen Mü doch gar nicht. In einem ganz normalen Fall verliest der Staatsanwalt die Anklageschrift doch auch, bevor sie jemals öffentlich verlesen wurde…
Das würde ja bedeuten, dass StA keine Synergieeffekte haben dürfen, weil sie für den gleichen Sachverhalt zweimal die gleiche Anklageschrift (mit Änderung der Angeklagten) benutzen.
Klingt komisch…
Im 2. Satz ist ein „nicht“ zuviel, oder nicht?
Die Frage ist ja, ob es eine mündliche Verhandlung bezogen auf die konkrete Anklageschrift und den konkreten Angeklagten sein muss. Ansonsten wird die Anklageschrift ja in öffentlicher Verhandlung erörtert, wenngleich Mütterchen Mü daran nicht teilnimmt. Und man könnte auch – zugegebenermaßen etwas spitzfindig – vertreten, dass die Anklageschrift betreffend Mütterchen Mü nach der Abtrennung des Verfahrens formell eine neue Anklageschrift darstellt, auch wenn sie den gleichen Wortlaut wie die andere hat.
Der StA verliest den Anklagesatz der mit Eröffnungsbeschluss unverändert zur Haupverhandlung zugelassenen Anklage. Damit dürfte wenn schon nicht ein Tatbestandsausschluss wenigstens ein Rechtfertigungsgrund aus § 243 Abs. 3 S. 1 StPO vorliegen, jedenfalls wenn die Anklage nach Eröffnungsbeschluss nicht mehr zurückgenommen werden konnte.
Allenfalls könnte man noch darüber nachdenken, ob er beim Verlesen „Mütterchen Mu“ jedesmal durch „vormals Mitangeklagte/Mitbeschuldigte Mütterchen Mu“ ersetzen sollte.
@ RA Hoenig:
Vermutlich meinen Sie nicht § 353d StPO, sondern § 353d StGB. Bloggende Rechtsanwälte kennen diese Norm sehr genau.
Und ich tippe mal, dass § 353d StGB (und nicht StPO) gemeint ist.
Wer sagt denn, dass genau diese Anklageschrift auch bei Mütterchen Mü verwendet werden wird? Gibt es dann nicht evtl. eine neue? Oder die StA entscheidet sich dann „zufällig“ dafür, eine bereits bestehende zu verwenden. Aber theoretisch könnte diese doch noch geändert werden, oder nicht?
Lustig, den Gedanken mit dem Rechtfertigungsgrund aus der StPO hatte ich auch schon.
Die Wahrheit dürfte aber bei reiflicherer Überlegung im Tatbestand zu finden sein. Es wird nämlich nicht „die“ Anklageschrift gegen Mü verlesen, sondern „die“ Anklageschrift gegen Brause, Gluffke und Bullmann. Dass gegen Mü später evtl. nochmal eine ähnliche oder sogar identische Anklage erhoben wird, ändert nichts daran, dass es nicht „die“ Anklage gegen Mü ist.
So jedenfalls mein Verständnis.
Wobei ich jetzt auch nicht ganz sicher bin. Wenn gegen Mü wieder aufgenommen wird: muss dann neu angeklagt werden oder wird dann die ursprüngliche Anklage genommen?
Er darf nicht mehr „die Angeklagte Mü“ lesen, sondern muss sie „die gesondert verfolgte Mü“ nennen. Strenger werden BGH und BVerfG § 353d StGB „im Sinne der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege“ sicher nicht auslegen lassen, zumal dies ja dann eine Auslegung „contra reo“ wäre.
Interessanter Gedanke.
Ob sich ein Staatsanwalt findet der die Anklage vertritt?
Wenn man eine Tatbestandserfüllung bei gleichem Text annehmen würde, müsste dies eigentlich auch für die Textbausteine der Staatsanwaltschaft gelten.
Im Schönke/Schröder 29. Auflage 2014 findet sich zu § 353d Rn 45 diese Lösung: „Vom Tatbestand auszunehmen sind jedoch Prozesshandlungen, durch die amtliche Schriftstücke öffentlich (zB Verlesen in öffentlicher Verhandlung) mitgeteilt werden, und zwar gleichgültig, ob dies prozess- und materiell-rechtlich zulässig ist oder nicht.“
Hmmm ..
Mögliche Rechtfertigungsgründe mal beiseite: §353d Nr. 3 StGB stellt doch unter Strafe, die öffentliche Mitteilung u.a. der Anklageschrift im Wortlaut , bevor diese in öffentlicher Verhandlung erörtert wurde.
Erörterung ist doch letztlich der Austausch (das Verhandeln) über den Inhalt eben dieser Anklageschrift und noch nicht deren Verlesung, oder? (Warum schreibt man da nicht beispielsweise „vor Beginn der mündlichen Verhandlung“ o.ä., sondern stellt ausdrücklich auf die Erörterung ab?)
Dann aber ist doch eigentlich immer der Tatbestand erfüllt, wenn der StA die Anklageschrift verliest (jedenfalls bei öffentlicher Verhandlung….)
Es wird vermutlich schon an „öffentlich“ scheitern. Eine öffentliche Hauptverhandlung wird regelmäßig nicht öffentlich im Sinne des § 353d StGB sein. Denn der Kreis ist selbst mit Zuschauern immer noch überschaubar.
Vgl. z.B MüKo-Graf § 353d StGB Rn. 68: „Öffentlich ist eine Mitteilung im Übrigen dann, wenn sie einem nach Zahl und Individualität unbestimmten oder einem nicht durch persönliche Beziehungen innerlich verbundenen größeren Kreis von Personen zugänglich gemacht wird, wobei jedoch eine Anzahl von fünf bis sechs Personen noch nicht ausreichen dürfte.“
In öffentlicher Verhandlung wird man nicht umhinkommen öffentlich mitzuteilen. Damit dürfte der Staatsanwalt aus dem Schneider sein, mit oder ohne Mütterchen.
Mich beschäftigt, welches Buch da als viertes von rechts oder drittes von links auf dem Bild im Eröffnungspost zu sehen ist. Alle anderen stehen bei mir auch im Schrank. Also, was ist mir da entgangen?
[…] Faszinierende Mitteilung der Anklageschrift, […]