Der Mandant wurde verhaftet. Bei der Verkündung des Haftbefehls wurde ihm auch gleich die Anklageschrift in die Hand gedrückt, bevor man ihn in die Untersuchungshaftanstalt verfrachtete. Kein leichtes Gepäck, diese Anklage; immerhin 765 Seiten Blatt Papier hat die Staatsanwaltschaft bedruckt. Das paßte aber – wenn auch eher knapp – in zwei handelsübliche Stehordner.
Welche Bedeutungen hat ein solches Werk, in dem soviel Arbeit steckt?
Die Strafjuristen haben von zweierlei Funktionen gehört, als sie im ersten Semester Jura noch die Strafrechtsvorlesungen an der Uni besucht haben.
Informationsfunktion
Die Anklageschrift soll dem Angeschuldigten das Wissen über den gegen ihn erhobenen Vorwurf vermitteln. Wer von Franz Kafka „Der Prozess“ gelesen hat, weiß, was es bedeutet, nicht zu wissen, was einem vorgeworfen wird.
Umgrenzungsfunktion
Mit der Anklage soll ferner die Tat konkretisiert und von anderen Lebenssachverhalten abgrenzt werden.
Es geht also um die Festlegung des Prozessgegenstands. Aber was hat das nun mit der Überschrift zu tun?
Diese oben beschriebene Anklageschrift ist brandgefährlich.
Zum einen
für den Angeschuldigten.
Denn bestätigen sich die Tatvorwürfe, könnte das die Desozialisierung hinter Gittern bedeuten, bevor man ihn nach ein paar Jahren als resozialisiert wieder entläßt. Keine schöne Aussicht.
Sie ist aber auch
für die Untersuchungshaftanstalt
gefährlich, und zwar im wörtlichen Sinne einer Brandgefahr. Soviel Papier auf einem Haufen in einem Ordner und dann in der Nähe ein Streichholz – das treibt einem gestandenen Gefängnisdirektor den Schweiß auf die Stirn.
Die Lösung für den Anstaltsleiter?
Ganz einfach: Man nimmt dem Gefangenen das Machwerk des Staatsanwalts ab und deponiert es bei seiner Habe, mithin unerreichbar für den Angeschuldigten.
Und jetzt?
Was ist mit der Verteidigung? Sind wir nun doch wieder bei Herrn Josef K. aus Kafkas Roman?
Die Suche nach der Lösung dieses Problems
habe ich erst einmal an die Strafkammer weiter gegeben, die über den Antrag des Staatsanwalts entscheiden muß, die Anklage zuzulassen und das Hauptverfahren vor dem Landgericht – Wirtschaftsstrafkammer – zu eröffnen. Zu diesem Antrag muß der Angeschuldigte gehört werden, § 201 StPO. Der hat aber nichts zu sagen, weil er die Anklage gar nicht kennt.
Der Vorsitzende Richter dürfte da ein Problem mit seinem Terminskalender und den laufenden Fristen bekommen. Was rät der Verteidiger dem Richter in so einer Situation?
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Bild: © © Foto H.-P.Haack – Antiquariat Dr. Haack Leipzig / via Wikipedia
Darf ich als juristisch ungebildeter Laie raten?
Den Haftbefehl außer Vollzug setzen, damit der Beschuldigte die Anklage auch zur Kenntnis nehmen kann?
Alternativ dem Strafverteidiger die Akte unmittelbar zukommen zu lassen und ihm anzuempfehlen sich unverzüglich mit dem Sachverhalt auseinanderzusetzen und ihn dem Mandanten zu vermitteln. ;-)
Akte digitalisieren (lassen ?) und dem Mandanten als PDF auf einem handelsüblichen e-Book-Reader (kein Internet, es gibt Versionen nur mit WLAN, da bekommt man im Knast wohl kaum Zugang dazu) zur Verfügung stellen.
Oder geht dies im digitalen Neandertal der Strafjustiz nicht?
Einen schnellen Prozess auf einem Dachboden?
„Verteidiger gemeinsam mit seinem Mandanten im Knast einschließen lassen“
Das führt auf der Gegenseite eher zum blanken Entzücken. :) Zwei Fliegen mit einer Klappe. ;)
Lösung zum Problem: Den Mandanten die Möglichkeit geben tagsüber die Akte zu lesen. Tisch, Stuhl, Akte, Glas Wasser und das alles in einem Bereich, wo er gesehen wird.
Auch mal ganz laienhaft:
Den Gefängnisdirektor um „eine Tüte“ bitten und ihm ein Mainzelmännchen in die Hand drücken?
Größere Mengen Papier als Brandgefahr? Kommt so ein Unsinn öfters vor? Die JVA Frankenthal verfügt beispielsweise sogar über eine Gefängnisleihbücherei. Eigentlich reicht es doch, den Häftlingen Feuerzeug, Zündhölzer und meinetwegen noch Lupen und Toaster zu verbieten, von selbst entzündet sich das Papier ja wohl nicht.
Falls das Papierverbot tatsächlich nicht verhandelbar sein sollte: Die Idee mit dem PDF und dem E-Book-Reader war nicht schlecht. Für die technophobe Justiz könnte man ersatzweise noch vorschlagen, das Zeug per Spezialdrucker auf nicht brennbares Material drucken zu lassen. Wär doch mal was, eine Anklage auf Alufolie. ;-)
Es gibt auch zahlreiche einfache eBook-Reader ohne Funktechnologie, wo die Daten via USB raufkommen
Sicherlich gibt es Gefängnisleihbüchereien, aber bekommt jeder (auch in der U-Haft) Zugang dazu? Oder nur die, bei denen man den Zugang eben für eher unbedenklich hält? Das Ist je JVA und je Häftling vermutlich unterschiedlich zu bewerten.
Und Papier kann man auch ohne Feuerzeug, Zündhölzer, … entzünden. Wer Zeit hat (hat man in U-Haft wohl genug) fassert das Papier schön auseinander und hat guten Zunder, jetzt mit irgendwas Funken schlagen (finden sich auch genügend Möglichkeiten in einer Zelle) -> Feuer.
Die Alternative soll ein eBook-Reader also sein? Erstens finde ich es arg fraglich, ob man mittels eines eBooks eine Akte halbwegs so gut durcharbeiten kann, wie bei einer Papierversion und das sag ich als Informatiker der jüngeren Generation. Gerade wenn man (mangels Papier) nichtmal Möglichkeiten hat sich Übersichten und Notizen zu machen.
Wahnsinnig an der eBook-Idee finde ich jedoch: Die Dinger haben quasi alle Lithium-Ionen-Akkus verbaut. Damit kann man einerseits super ein Feuer mit entfachen und (je nach Glück/Pech) gar zur Explosion bringen.
Wenn man Papier zusammenknüllt und das nach mir wirft… okey, das verkrafte ich. Aber einen Akku der gerade dabei ist abzubrennen oder ggf. gar zu explodieren? Nein danke…
Eine richtige Lösung, wenn der Häftling unbedingt in seiner Zelle die Akte durcharbeiten können muss, hab ich auch nicht. Könnte mir aber vorstellen, dass man normal Gedrucktes mit irgendwas beschichten/einsprühen kann, sodass es schwer entflammbar wird. *google* Ja gibt’s, einfach mal nach „Flammhemmendes Papier“ suchen und man findet Papier dass „sich bedrucken, bemalen, bekleben, falzen, heften, schneiden und stanzen“ lässt.
Gruß,
asca
Inhaftierung, ohne dass dem Inhaftierten die (bereits erstellte) Anklageschrift zur Vorbereitung seiner Verteididung überlassen wird – das ist hoffentlich in diesem Land nicht möglich. Jedenfalls nicht länger als ein paar Stunden. Oder? Schockieren Sie mich nicht.
„Was rät der Verteidiger dem Richter?“
Nichts? Der Verteidiger steht ja in Diensten des Delin^WAngeklagten, nicht des Gerichtes…
Ich sehe schon … wenn sich Papier und eBooks als Medium für die Datenaufbewahrung und -wiedergabe aus Sicherheitsgründen nicht eignen weil die Gefangenen regelmäßig in McGyver-Manier Feuer legen und Sprengsätze basteln wollen, dann müssen wir wohl auf den guten alten Hinkelstein zurückgreifen.
Allerdings ahne ich bereits, dass dann irgendeinem Tüftler wieder ein Grund einfällt, warum Hinkelsteine eigentlich viel zu gefährlich sind.
Als juristischer Halbleie würde ich sagen: Es kommt auf die Nerven an.
Es wäre doch ein wunderbares Hindernis im Verfahren, wenn der Anspruch auf rechtliches Gehör auf so eklatante Weise missachtet wurde. EIn nachhaltiger Grund, das Urteil vor der näcshten Instanz platzen zu lassen?
Und die Strategie der „Alternativen“, ehrlich – ist es Ihr Job, dafür zu sorgen, dass der Staat einen ordentlichen Job macht? Ich habe Zweifel. Und wie sehr hilft es dem Angeklagten tatsächlich, das ganze Zeug zu lesen? Macht das Spass? (OK, in der U-Haft zu sitzen macht vermutlich wesentlich weniger Spass..).
Schlimm genug, wenn man als Halbleie schon so denkt..
OMG; Laie! Was habe ich bloss geschrieben.
@Fry
Anders als in den USA (wobei da immer noch nach Bundesstaaten zu differenzieren ist) ist eine Anklage in Deutschland nicht Voraussetzung für die Verhängung von U-Haft. Man kann also mehrere Monate in U-Haft sitzen ohne Anklage (nicht aber ohne Tatverdacht). Der Begriff der Anklage bzw. des anklagens (…charged with second degree murder…) wird allerdings auch unterschiedlich verwendet.
@Michael, natürlich ist der Anwalt seinem Mandanten gegenüber verpflichtet. Aber warum soll man das nicht ausnutzen und freundlich mit dem Zaunpfahl winken?
@ Alex: Kommt drauf an. Wenn dem Angeklagten z.B. Untreue in ein paar tausend Fällen durch unberechtigte Überweisungen an Strohmänner mit gefaketen Rechnungen vorgeworfen wird, bei denen er dann das Geld (abzüglich deren Anteil) für sich selbst einkassiert hat und der Angeklagte weiß, dass er diese Nummer tatsächlich jahrelang in entsprechendem Umfang durchgezogen hat, dann hilft es ihm nicht, wenn er beim Durchlesen der Anklage sagen kann: Oh, Fall Nr. 356 stimmt aber nicht.
Im Regelfall ist es aber notwendige Grundlage der Verteidigung, dass der Angeklagte selbst im Detail erfährt, was ihm vorgeworfen wird, damit er seinem Verteidiger gezielt sagen kann, was denn aus seiner Sicht an den Vorwürfen dran ist. Der Verteidiger selbst war ja (hoffentlich) nicht dabei und kann es nicht wissen.
[…] Über das kafkaeske Verfahren, dem mein Mandant derzeit ausgesetzt wurde, hatte ich in der vergangenen Woche berichtet. […]
[…] Akteneinsicht, die er bis zum Haftprüfungstermin noch nicht erhalten hat. Im Übrigen fehlte ihm auch die Einsicht in die Anklagbeschrift. […]