Merkwürdiges Verständnis vom fairen Verfahren

Über die Beschuldigtenrechtereform berichtet das RTF.1 – Regionalfernsehen. In der Sache geht es um die Stärkung der Beschuldigtenrechte im Ermittlungsverfahren, die in einem Gesetzentwurf der Bundesregierung (pdf) formuliert sind.

Das Anwesenheitsrecht des Verteidigers bereits bei der ersten polizeilichen Vernehmung soll festgeschrieben werden. Die Polizeibeamten sollen verpflichtet werden, den Beschuldigten bei bei der Suche eines Verteidigers aktiv zu unterstützen. Der Verteidiger soll beispielsweise bei Gegenüberstellungen vorab informiert und beteiligt werden, um falsche Identifizierungen möglichst zu vermeiden.

Der Bericht zitiert den Kollegen Stefan Conen, Strafverteidiger in Berlin, der eine alte Forderung hervorhebt: Von solchen Ermittlungsmaßnahmen sollen

Videoaufzeichnungen angefertigt werden, die bei Zweifeln vor Gericht herangezogen werden könnten. Auch für andere Vorgänge im polizeilichen Ermittlungsverfahren wie Belehrungen sollten Aufzeichnungen vorgeschrieben werden. Bei Verfahrensfehlern trage der Beschuldigte die Beweislast, aber ohne Dokumentation könne er diesen Beweis kaum erbringen.

Und wie positionieren sich die Vertreter der Staatsgewalt zu diesen Forderungen, die im übrigen auch von vielen Polizeibeamten erhoben werden?

Der Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof Rolf Raum warnte dagegen, die im Gesetzentwurf angelegte „zunehmende Formalisierung“ der Verteidigerrechte würde „Verfahren schwerfälliger und ineffizienter machen“. Ähnlich argumentierte der Marburger Oberstaatsanwalt Gert-Holger Willanzheimer. Die vorgesehene Verpflichtung, im Verlauf eines Ermittlungsverfahrens „jedes Mal aktiv den Verteidiger zu benachrichtigen“, führe „zu einer Verkomplizierung“.

Diese Standpunkte sind nachvollziehbar:
Verteidiger stören ohnehin nur die Ruhe beim Verurteilen und Wegsperren. Konsequent zuende gedacht: Einfach die Verteidigung aus der EMRK und den Prozeßrechten streichen; dann klappt es auch wieder mit dem Standrecht.

Provokante Frage:
Wenn man Strafverteidiger nur noch zur Dekoration des Strafverfahrens heranziehen möchte – wozu braucht man dann eigentlich noch Richter? Die Staatsanwaltschaft ermittelt Straftaten, sie ist auch später zuständig für die Vollstreckung der Strafen. Warum sparen wir uns – neben den Verteidigern – nicht auch den Umweg über die Gerichte?

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Bild: © Bredehorn.J / pixelio.de

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14 Antworten auf Merkwürdiges Verständnis vom fairen Verfahren

  1. 1
    Ich says:

    Antwort auf die „provokante Frage“: Weil die Zeiten der Inquisition gottlob vorbei sind.

  2. 2
    roflcopter says:

    Passiert doch oft genug bei Durchsuchungen, Blutabnahmen und sonstigen Stopp Maßnahmen, wenn die Gefahr angeblich wegziehen mag :D

  3. 3
    Waschi says:

    Die wollen ernsthaft einführen, dass der Verteidiger bei der Polizei im Anschluss an die Beschuldigtenvernehmung schonmal sein späteres Plädoyer üben darf?
    Dann soll er aber bitte auch seine/n ReNo mitbringen, um das zu protokollieren.

  4. 4
    Thomas W. says:

    @ Ich

    Nur halb richtig. Im deutschen Strafprozeß gilt das „reformierte Inquisitionsprinzip“. Der Richter darf Prozesse nur nicht mehr von Amts wegen an sich ziehen, sondern muß „leider“ auf eine staatsanwaltliche Anklage warten. Mit deren Eingang wird er jedoch wieder selbst zum Ermittler und benötigt eigentlich gar keine Staatsanwaltschaft mehr.

    Das nutzt der ein oder andere Strafrichter, an dem ein Staatsanwalt verloren gegangen ist, weidlich aus und ermittelt von Amts wegen den Angeschuldigten/Angeklagten „in Grund und Boden“, mit mehr Verfolgungseifer als mancher Staatsanwalt.

    In anderen Rechtsordnungen bleibt der Richter unparteiischer Schiedsrichter im Parteiprozeß zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft und achtet im wesentlichen auf die Einhaltung der Verfahrensregeln. Beides hat Vor- und Nachteile. Ingesamt verursacht das deutsche System jedoch aus meiner Sicht, daß die meisten Strafrichter sich ein bißchen mehr auf der Seite der Staatsanwaltschaft sehen als auf der Seite der Verteidigung.

  5. 5
    chris says:

    provokante antwort: richter waren in der ddr auch notwendig.

  6. 6
    HugoHabicht says:

    @Thomas
    Viele Strafrichter (in Bayern sogar praktisch: alle) waren vorher mal Staatsanwalt. Manche wechseln auch wieder zurück. Dieser Drehtüreffekt, verbunden mit der sonstigen auch räumlichen Nähe (Staatsanwaltschaft und Gericht teilen sich oftmals ein Gebäude, manchmal auch den gleichen Flur) dürfte einen noch größeren Einfluß haben, als die Stellung des Richters im Prozeß .

  7. 7
    Diogenes_vs says:

    Warum sparen wir uns nicht auch die StA und lassen die Verdächtigen von der Polizei aus Notwehr erschießen?

  8. 8
    Diogenes_vs says:

    Die meisten Beschuldigten/Angeschuldigten/Angeklagten bräuchten in der 1. Instanz keinen Verteidiger, wenn sie einfach schweigen würden, und ein striktes Fort- und Fernwirkungsverbot gelten würde (ua. Poisionous Tree-Doktrin) und der BGH nicht contra legem die Widerspruchslösung eingeführt hätte.

  9. 9
    WPR_bei_WBS says:

    Ich hoffe mal, das ist das einzige was in dem Entwurf steht (mea culpa, ich habe mir nicht alles durchgelesen und vor allem die Verweise auf Paragraphen nicht zurück verfolgt) – nicht, dass die Regierung hier gleichzeitg still und leise das Vorladungsrecht auf die Polizei ausweiten will. So nach dem Motto „das machen wir jetzt einfach mal, und als Beruhigungstablette geben wir dann dabei, dass der Verteidiger ’nach Möglichkeit‘ (hi hi hi) dabei sein soll.“

  10. 10
    Dipl. Händchenhalter, LL.M. says:

    @Diogenes-vs

    Mag ja ggf. richtig sein, aber woher soll ein Angeklagter wissen, ob er mit dem Schweigen eine gute Taktik fährt ? Ich hatte auch schonmal das Vergnügen vor einem bayrischen Provinzgericht erscheinen zu müssen und wäre mit der Schweigen Methode mit wehenden Fahnen untergegangen.

    Das ist ja sowieso etwas, was mir unbegreiflich ist. Jeder Pfosten bekommt PKH irgendwelche Beträge irgendwelchen Kleinscheiß, wo es teilweise um Beträge i.H. von 1 Jahr vorliegen … Ähhhm ? WTF ?

    Gott sei Dank wird auch diese festgefahrene Struktur durch EU Recht aufgebrochen. (vgl. https://www.datev.de/web/de/aktuelles/nachrichten-steuern-und-recht/recht/neue-eu-vorschriften-garantieren-prozesskostenhilfe-in-strafverfahren/)

    Hoffen wir, dass es bessere Resultate erzielt, als die Reform des §147 Abs. 7 StPO. Denn in dem Bereicht werden viele Anträge schlicht ignoriert oder aber ohne förmlichen Beschluss zurückgewiesen. Erst auf das ausdrückliche Bestehen auf einen rechtsmittelfähigen Beschluss gibts dann meist unkommentiert eine Kopie der Akte mit dem Hinweis, dass die Kosten im Falle einer Verurteilung durch den Angeklaten zu tragen sind.

  11. 11
    Dipl. Händchenhalter, LL.M. says:

    Huch da wurde einiges verschluckt. Der nochmal der Absatz:

    Das ist ja sowieso etwas, was mir unbegreiflich ist. Jeder Pfosten bekommt PKH für irgendwelchen Kleinscheiß, wo es teilweise um Beträge von unter 20€ geht.

    Aber im Strafrecht, gibts einen Verteidiger erst bei einer erwarteten Strafe von über einem Jahr …

  12. 12
    Jan says:

    Ein sonderliches Vertrauen in die Justiz habe ich auch nicht mehr.

    Insbesondere wenn es um die Staatsanwaltschaft geht.

    Ich hatte eine Geldstrafe zu bezahlen, 30 Tagessätze a 35 Euro. Zweimal hab ich Geld überwiesen, und beim dritten mal nicht dran gedacht. Bishierhin selber schuld, auch das ich die 30 Tagessätze zahlen muss, meine schuld, ich sah den Vorgang zwar etwas anders, aber das ist das mit dem Gericht und hoher See. und irgendwie isses ja auch so.

    Nun ja ich hab eben die dritte rate nicht bezahlt, weil vergessen.

    Da hatte es nicht lange gedauert, und die Staatsanwaltschaft sendet einen Pfändungsbeschluss.

    In dem Moment war die Sache für mich erledigt, Holt sich die Staatsanwaltschaft halt das Geld beim Arbeitgeber, soll mir auch recht sein

    Blöderweise ist Meinarbeitgeber leider auch überkorrekt, und lässt die 4 Wochen Amtwortfrist verstreichen.

    Und ab da gings schnell.

    Es kommt ein Brief mit Pfändung aufgehoben, und da hab ich einen derben Fehler gemacht, ich hab nicht richtig weitergelesen. ich hab nur gelesen aufgehoben, quasi erledigt.

    das hintendran auch nioch ein Zettel war mit der freundlichen einladung ins Hotel Gitterblick, hab ich schön ignoriert.

    drei wochen später klingelt es abends sehr spät, so gegen 22:30 bei mir, ich war eigentlich grad eingeschlafen, hab das klingeln erstmal ignoriert.

    Dann Höre ich sehr lautes klopfen, Polizei machen sie mal auf!

    ich wollte schlafen, mein Wecker zur arbeit sollte ja bald klingeln, (0400 Frühschicht)

    ich hab dann aufgemacht, hätte ja auch sein können das mal wieder ein WW2 Bombenfund in der Nähe ist. ( gibts hier regelmässig)

    Ja Polizei, sind sie Herr Sowieso, geboren am xx? ich schlaftrunken: ja

    Sie sind verhaftet!

    whait what?

    sie haben noch eine geldstrafe offen, 780€ haben sie die dabei?

    ne natürlich nich, ich hab 50 Euro einstecken,

    wenn sie uns jetzt nicht die 780 € geben können nehmen wir sie mit und bringen sie in die nächstgelegene JVA.

    Also landete ich in einer nacht von Donnerstag auf Freitag um 0200 in der JVA Tonna.
    Super.

    Am Freitag Vormittag passiert da dann auch nicht viel. Zwangsbesuch bei einem Arzt,7Warten auf einen Termin bei dem sogenannten sozialdienst.

    tja Freitag Mittag, da war ich froh das ich wenigstens Drehtabak und Papier bekommen habe. mehr war nicht passiert.
    Übers Wochenende passiert nichts, Montag passiert auch nichts. ist ja Feiertag.
    Dienstag habe ich es geschafft etwas schlauer zu werden, in einer JVA muss alles schriftlich sein.
    Also antrag auf Sozialdienst, auf ZUgangzu einem Geldautomaten, Antrag auf kaufen von Zigaretten usw, ihr wollt Papier dann kriegt ihr papier.

    Mittwoch früh:
    beim Wecken, sie werden verlegt!

    hä was?
    packen sie ihre Sachen, sie kommen heute noch nach Hohenleuba!
    warum das? Hier ist nur Platz für Langzeitgäste, Kurz und aqnderes wird in Hohenleuba erledigt.

    Frage was ist mit meinen Anträgen ? sind hinfällig, das müssen sie da dann niochmal neu machen…….

    Dort vor ort ist aiuch nicht viel passiert, kein Wunder, wenn man erst 1500 dort ankommt,
    Also am Donnerstag dann das selbe spiel, Anträge schreiben,
    und oh Wunder, Freitag früh passiert es, ein termin mal bei jemand der sich kümmert, ich werde zum Geldautomat begleitet! ich muss nur noch warten bis ein Beamter Zeit hat, bis ich zur Kammer? gebracht werden kann um merine EC Karte zu holen, bis einer Zeit hat das ich besuchskleidung anziehen kann, Bis die Verwaltung festgelegt hat welche Sicherheitsdingensens notwendig sind usw.

    Da ich ja verhaftet wurde, nur das volle Programm, In Handschellen, an einen Beamten gekettet, begleitet von einem zweitem Beamten.

    Das alles hätte man sich echt sparen können,
    wenn 1. ich nicht so schluderig gewesen wäre. ( das da noch was offen war, meine Schuld)
    2. die Polizei hätte mich auch beim verhaften am Geldautomaten abliefern können.
    3.
    wenn wenigstens ein EC Terminal in einer JVA vorhanden wäre.

    das einzig positive: 7 Tage JVA haben die Geldstrafe natürlich veringert.

  13. 13
    Martin Overath says:

    Was nutzen Videoaufzeichnungen, wenn – wie das hiesige AG – technisch selten in der Lage ist, diese in der HV abzuspielen. Wenn ja, bekommt die Öffentlichkeit sie nicht zu sehen.

  14. 14
    Stanislaus says:

    Noch mehr Rechte für die Beschuldigten? Ernsthaft?

    Aber bitte nur, wenn die Rechte der Opfer auch endlich massiv gestärkt werden und bei nachgewiesenener Tat endlich eine Strafe erfolgt, nach der man sich einen Rückfall wirklich fünf Mal überlegt. Das was bisher im Vollzug passiert scheint ja alles andere als wirksam zu sein.

    • Wir sind uns einig, daß das, was „im Vollzug passiert“, nix taugt. Diejenigen, die sich mit dieser Ineffizienz auf kompetenter Ebene beschäftigen, ziehen allerdings andere Schlüsse daraus als Sie: Der Weg über höhere Strafen führt nahezu zwingend zu höheren Rückfallquoten. Das wird selbst von den professionellen Geschädigtenvertretern so gesehen.
       
      Und wenn Sie sich mal in der Praxis die Vertreter Rechte der Geschädigten (das wäre dann auch der korrekte Begriff) anschauen, dann wüßten Sie, daß die Geschädigten nicht mehr Rechte im Strafprozeß nötig hätten, sondern kompetente Vertreter. Es reicht nicht aus, sich das Schild „Opferanwalt“ um den Hals zu hängen, wenn man keinen Beweisantrag vor der Strafkammer stellen kann und sich auf’s Taschentuchreichen beschränkt. crh