Heute mal wieder einen Beitrag zum Thema: „Sprichwörter in der Gerichtspraxis“ und der Blick in die Glaskugel.
Udo Vetter berichtete über ein Lotteriespiel auf Hoher See und in Gottes Hand: Der Fischer-Senat, also der 2. Senat beim Bundesgerichtshof (BGH), hatte über zwei spannende Fälle zu entscheiden:
Fall 1: Ist die Nötigung zur Herausgabe von Betäubungsmitteln strafbar?
Dazu die (beabsichtigte) Lösung des 2. Senats:
Die Nötigung zur Herausgabe von Betäubungsmitteln richtet sich nicht gegen das Vermögen des Genötigten und erfüllt daher nicht den Tatbestand der Erpressung.
Quelle: Beschluß vom 01.06.2016 – 2 StR 335/15
Und nun der Fall 2: Ist die Nötigung zur Herausgabe von Betäubungsmitteln strafbar?
Dazu die (ausgeurteilte) Lösung des 2. Senats:
Wer … einen Rauschgifthändler oder –kurier mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zur Herausgabe von Drogen nötigt, … macht sich der räuberischen Erpressung schuldig.
Quelle: Urteil vom 22.09.2016 – 2 StR 27/16
Ja, zwei identische Fallgestaltungen! Aber zwei sich einander ausschließende Ergebnissse.
Wir haben hier im Ernstfall also zwei Angeklagte, die die gleichen Taten begangen haben:
- Der Angeklagte Nr. 1 wird freigesprochen,
- der Angeklagte Nr. 2 bekommt dafür 5 Jahre plus X.
Vom selben (nicht: gleichen) Gericht.
Vergleichbares kennen wir:
Berliner Gerichte interpretieren das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) und dessen Rechtsfolgen anders als Bayerische Gerichte. Aber zwischen der Turmstraße 91 und der Nymphenburger Straße 16 liegen laut Google mehr als 580 km Autobahn und eine Sprachgrenze.
Vorstellbar (wenngleich auch schon nur schwer nachvollziehbar) ist noch, daß innerhalb ein und desselben Gerichtsbezirks die Abteilungen, Kammern oder Senate in ihren Be- und Verurteilungen voneinander abweichen.
Das ist der Ausfluß der richterlichen Unabhängigkeit, Art. 97 Abs. 1 GG.
Aber innerhalb ein und desselben Senats rechnet kein normal, von den Kriterien des § 20 StGB entfernt denkender Mensch mit sich widersprechenden Entscheidungen. Zumal, wie Udo Vetter herausgearbeitet hat, es bis auf einen einzigen Richter dieselben (vier) Richter waren, die zu den divergierenden Ergebnissen gekommen sind.
Auch Detlef Burhoff bemüht zu diesem Thema ein Zitat, das bekannte von Conrad Hermann Joseph Adenauer, der sich nicht um sein Geschwätz von gestern kümmert.
Mir fällt dazu ein:
Vor Betrunkenen und den Richtern am Bundesgerichtshof sollte man sich in Acht nehmen: Man weiß nie, wohin sie torkeln. Wobei wir dann doch wieder beim § 20 StGB wären …
Was soll ich als Strafverteidger meinen Mandanten antworten, wenn er mir die Mandantenstandardfrage stellt: Mit was muß ich rechnen?
Dann kann ich eigentlich nur sagen: Rechnen Sie mit einem Freispruch, mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe oder mit irgendwas dazwischen. Ich sage oft gar nichts, sondern zeige nur auf unsere Glaskugel; damit kann ich nichts falsch machen.
Können aus der Fischer-Kolumne keine Gründe für einen Befangenheitsantrag hergeleitet werden ?
Er hat ja einmal fast so etwas wie Feindstrafrecht gefordert. Wer etwa jemanden überfällt der möchte nicht selber überfallen werden und stehe der Rechtsordnung prinzipiell nicht feindlich gegenüber. Im Gegensatz dazu wolle der Terrorist die Ordnung beseitigen und deshalb fordert Fischer für diese Täter ein besonderes Strafrecht.
Vielleicht hat die Glaskugel beim BGH ja einen Wackelkontakt.
Was soll der 2. Senat beim Bundesgerichtshof denn auch anderes machen, wenn Sie ihm die Glaskugel vorenthalten? ;-)
Und hier ein kleines Quiz:
Welche Auffassung zu dieser Rechtsfrage vertreten
Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Krehl und
Richter am Bundesgerichtshof Dr. Appl.
Dabei soll vorausgesetzt werden, daß es keine „Umfaller“ gab.
Mich erinnert das an etwas, das ich mal zur Strafbarkeit gelesen habe. Soweit ich das in Erinnerung habe, muss man es als verständiger Bürger es wissen können müssen, dass man sich rechtswidrig verhält. Im zweifel muss man sich informieren.
Was ist nun? Liebe Anwälte, ist A strafbar? Die Rechtsgelehrten sagen: Wir wissen es nicht! Die Richter sagen: Wir sind uns nicht einig!
Über afrikanischen Bananenrepubliken, auf die von hier aus gerne herunter gesehen wird würde man sagen: Typisch. Merkmale volliger Willkürsjustiz, sowas wäre bei uns rechtsstaatlich undenkbar.
Gibt es bei den Urteilen nicht einen Mehrheitsentscheid?
Wenn es jeweils Urteile mit 3:2 Stimmen waren, können doch durchaus die 4 Richter aus beiden Fällen bei ihren Urteilen geblieben sein und lediglich Dr. Krehl hat nun anders entschieden als damals Dr. Appl.
Wenn das zuträfe, wäre auch klar, welche Auffassung die beiden Richter jeweils vertreten :-)
Fall 1: Ist die Nötigung zur Herausgabe von Betäubungsmitteln strafbar?
Es geht mE nicht um die Frage, „strafbar oder nicht strafbar“, sondern um die Frage strafbar als Erpressung/räuberische Erpressung oder doch „nur“ strafbar als Nötigung/Bedrohung und was je nach Einzelfallkonstellation sonst noch anfallen mag.
Das mit dem Freispruch oder 5 Jahre ist mindestens in dem jüngst entschiedenen Fall auch relativ. Der dortige Angeklagte hatte sich Verurteilungen wegen Straftateten in zweistelliger Höhe eingefangen. Der Einzelfall macht es für ihn also nicht fett.
Trotzdem natürlich keine schöne Situation, heute hü, morgen hott. Ein bisschen Verlässlichkeit in der Rechtsprechung hätte der Bürger ja dann doch gerne.
Die Frage ist aber auch kniffelig: ist es eine Straftat, wenn man einem anderen Straftäter die Essenz seiner Straftat gegen seinen Willen wegnimmt? (Die Polizei macht doch genau das Gleiche! Gibt es dafür keine Belohnung?)
Wollte man die Auffassung vertreten, dass die Straftat geringer oder gar nicht vorhanden ist, wenn das genommene Gut an sich illegal war, so ergäben sich völlig neue Perspektiven. Dann wäre z.B. die räuberische Erpressung eines Steuerhinterziehers auch weniger strafbar als die eines normalen Bürgers. Und den Hehler/Dieb dürfte man hemmungslos beklauen.
Schwierig das konsequent zu differenzieren und umzusetzen. Insoweit erscheint mir das „härtere“ Urteil stringenter.
Was ich nicht verstehe: warum hat der 2. Strafsenat nicht einfach mit dem Urteil in der zweiten Sache abgewartet, bis der Große Strafsenat in der ersten (grundsätzlichen) Frage eine Richtungsvorgabe erteilt hätte?
Wo die Richter doch sonst das (angeblich hohe) „Ansehen der Justiz“ immer als ein so wertvolles Gut ausgeben.
Es ist peinlich, dass Vetter, Burhoff und Hoenig allesamt nicht mit dem zumindest unter Juristen als bekannt vorauszusetzenden Umstand umgehen können, dass die BGH-Senate mehrere Spruchgruppen haben, womit zwingend die Möglichkeit von Binnendivergenzen einhergeht und bei großem Pech – Auftreten derselben Rechtsfrage innerhalb eines kurzes Zeitraums – eben auch die Möglichkeit unterschiedlicher Entscheidungen wie hier geschehen. Im Ergebnis ist im Übrigen nahezu ausgeschlossen, dass der Große Strafsenat sich der Vorlage anschließt und die BGH-Rechtsprechung ändert.
@ Hans-Georg:
Das peinliche ist doch viel mehr, dass man zwar im großen (also unter den Senaten) in der Lage ist, so eine Situation zu lösen (indem man den großen Strafsenat einberuft), aber man innerhalb eines Senats einfach so vor sich hindivergiert.
Bzgl. der Folgen der Rechtssprechung: Wenn man das durchzieht hieße das für mich z. B. auch, dass ich einem Dieb / Einbrecher / etc. nicht nur auf frischer Tat meinen Besitzt wegnehmen darf, sondern wohl auch noch, wenn ich ihn eine Woche später damit sehe. Na dann viel Spaß… Als nächstes haben wir dann womöglich in der realität so einen Unsinn wie diese „Pfändungsabschlepper“ auf RTL II.
DAS ist nicht „peinlich“, sondern vom Gesetz so vorgesehen (indem es gerade davon absieht, hierfür eine alle Senatsmitglieder bindende Entscheidung des Senatsplenums vorzuschreiben – wenn der BGH das Senatsplenum aus eigener Machtvollkommenheit entscheiden ließe, wäre das ein Verstoß gegen den „gesetzlichen Richter“ nach Art. 101 GG).
@ Hans-Georg:
Eben ;-): Eine Peinlichkeit des Gesetzgebers.
So peinlich ist es für den Gesetzgeber auch wieder nicht, denn man muss ja wiederum bedenken, dass jeder einzelne Spruchkörper eines BGH-Senats wiederum die Pflicht zur Divergenzvorlage bezüglich anderer Senate zu beachten hat. Die zweite Entscheidung konnte also nur deshalb gleich durchentschieden werden, weil sie übereinstimmt mit der bisherigen Linie der anderen Senate und weil in der anderen Sache eben noch keine abschließende Entscheidung des Großen Senats ergangen ist, welche die Rechtsprechung des BGH zu dieser Frage tatsächlich geändert hätte. Die Situation unterscheidet sich insoweit nicht von Verfahren, die bei den anderen Senaten anhängig sind, auch dort dürfen die Senate weiterhin fröhlich gemäß der bisher vertretenen Rechtsprechung urteilen, solange in der Sache mit der Divergenzvorlage vom Großen Senat nichts Gegenteiliges entschieden wurde.
Eine echte Lücke haben wir nur für den einen, eher unwahrscheinlichen Fall einer Binnendivergenz zwischen den verschiedenen Spruchgruppen eines Senats über eine Frage, die noch niemals auch von einem anderen Senat entschieden wurde. Dann könnte dieser eine Senat nämlich in der Tat ohne die anderen zu fragen alle paar Monate jeweils für das neue Verfahren seine eigene Rechtsprechung ändern.