Von den Timelines auf Twitter darf man sicherlich nicht ausschließlich gut durchdachte Abhandlungen erwarten. Wer ein aber Mindestmaß an Qualitätsansprüchen hat, sucht sich daher Twitterer aus, von denen – neben guter Unterhaltung – erwarten kann, daß sie nicht nur Blödsinn schreiben.
Deswegen folge ich einem Journalisten der BILD Investigative Recherche („Alles mit Kriminalität„).
Kurz vor meinem Wechsel in die vollständige Horizontale gestern Abend machte er mich mit diesem Tweet nochmal wach:
Peter Rossberg war so freundlich, mir trotz meiner anfänglicher Unhöflichlichkeit („ich weiß, fällt ihnen schwer, aber Stichwort Kinderstube und das Wort ‚bitte’…„) den Link auf dieses Video zu schicken, damit ich mir selbst von den „Mordversuchen“ ein Bild machen konnte:
Am Ende liegt der etwas übergewichtig erscheinende Mann in der roten Turnhose reglos in der Ecke. Mangels entsprechender Sensationsberichterstattung in der BILD gehe ich mal davon aus, daß er überlebt hat. Deswegen kann es schonmal kein Mord sein, sondern allenfalls ein Versuch. So weit, so korrekt, der Tweet.
Schaut man sich jetzt aber mal die Merkmale des § 211 Abs. 2 StGB etwas genauer an, kommen die ersten Zweifel, ob sie in dieser Videoaufzeichnung wiederzufinden sind.
Möglich erscheint mir, daß der Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung (§ 224 StGB) durch „die Russen“ erfüllt ist: Die Tritte gegen den Kopf des Turnhosenträgers könnte man als eine Körperverletzung „mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung“ ansehen. Ganz sicher ist das aber auch nicht: Die schwarzen Jungs tragen scheinbar Turnschuhe und keine in Sachsen gängigen Springerstiefel mit Stahlkappen.
Der eine oder andere Jurastudent wird weitere Straftatbestände entdecken, die hier in Frage kommen könnten. Mir geht es um einen anderen Aspekt.
Was soll die Exklamation des Fußballfans der Offenbacher Kickers bedeuten? Wie lautet die Botschaft des Veranwortung für die politische Meinungsbildug tragenden Journalisten, wenn er schreibt:
Nichts anderes als Mordversuche der Russen.
Mit einem Blick auf das Strafmaß dessen, was Peter Rossberg proklamiert, wird es deutlich:
Für einen versuchten Mord (§§ 221, 23 StGB) gibt es (bis zu) lebenslange Freiheitsstrafe. Der Investigativtwitterer ist – im Übrigen: zu Recht – entsetzt über das Verhalten der Randalierer und fordert eine möglichst hohe Bestrafung. Und zwar die höchste, die wir haben (bedauert er diese Begrenzung nach oben?).
Denn für eine gefährliche Körperverletzung gibt es nach § 224 StGB „nur“ maximal 10 Jahre Freiheitsstrafe. Das reicht Peter Rossberg anscheinend nicht.
Selbstverständlich ist das Verhalten der Treter nicht akzeptabel, unter keinem Aspekt. Aber bevor ich – als Qualitätsjournalist – die höchste Bestrafung fordere, die unser System bereit hält, muß ich mir doch Gedanken machen, ob das alles noch zusammenpaßt.
Die Verfahren vor den Schwurgerichgtskammer der Landgerichte (wo Mord und Totschlag verhandelt werden) dauern stets lange Tage und erfordern viele Klimmzüge, bevor ein Mord i.S.d. § 211 StGB ausgeurteilt werden kann. Das weiß auch (und gerade) ein Investigativjournalist der BILD.
Und genau deswegen sei mir die Frage gestattet, wo der Unterschied besteht zwischen „Nichts anderes als Mordversuche der Russen!“ einerseits und „Todesstrafe für Kinderschänder!“ andererseits? Die Gemeinsamkeit dieser Forderungen könnte in der Rechtsstaatsferne oder in der mangelnden Bildung des Proklamanten bestehen. Mit verantwortlicher Berichterstattung („rein privat ist hier gar nichts„) hat das jedenfalls nichts zu tun.
Tat eines Russen zum Nachteil eines Briten in Frankreich, da werden Sie mit der Anwendung deutschen Strafrechts etwas Probleme haben. Abgesehen davon, dass derartige Empörungsposts von Journalisten in der Regel eher unjuristischen Sprachgebrauch beinhalten ohne vorherige Befassung des Hausjuristen.
Selbst Stars der Qualitätsblätter und Investigativjournalisten, die Terabyteweise Panamapapers auswerten, schreiben unbelehrbar vom „Steuerbetrug“, da regt sich auch kein Blogger auf…
Dass Rossberg einen brutalen Vorgang laienhaft und vermutlich falsch als Mordversuch bezeichnet, macht ihn – aus Ihrer Sicht- gleich zu jemandem, der Pegidistenparolen zu den beabsichtigten und (grundgesetzwidrigen) Rechtsfolgen bei Kindesmissbrauch verkündet? Das ist mE ziemlich weit hergeholt…
Mit dem Mordmerkmal dürfte es tatsächlich nichts werden. Aber einen bedingten Tötungsvorsatz bei den Tritten gegen Kopf anzunehmen, ist jetzt nicht völlig fernliegend. Freilich dürfte ein strafbefreiender Rücktritt vorliegen.
Einschlägig ist hier nicht § 211 StGB, sondern Article 221-1 Code pénal. Die Bestimmung lautet: „Le fait de donner volontairement la mort à autrui constitue un meurtre. Il est puni de trente ans de réclusion criminelle.“
Da die Polemik in diesem Blog auf so herrliche Art und Weise kultiviert wird, habe ich mir erneut anheim gestellt, beizutragen. (auch zur seelischen Abwendung der Wirkung trüben Wetters)
Vorsorglich möchte ich Sie bitten, mir dies nachzusehen.
Herr Hoenig – von mir platonisch verehrt und fachlich geschätzt – gibt hier zu Protokoll „als Qualitätsjournalist“ werktätig zu werden. Beweise hierfür sind nicht zu negligieren. („Die schwarzen Jungs tragen scheinbar Turnschuhe und keine in Sachsen gängigen Springerstiefel mit Stahlkappen.“)
Zum Begriff „Qualitätsjournalismus“ ließ sich Prof. Jan Krone, der im Lebenslauf auch Spuren der Rechtswissenschaften (FU Berlin) hinterlässt, aus: „Der Begriff dient auffallend häufig als Muffe zwischen Ideologien und Interessen.“
Quelle:
http://www.carta.info/25552/qualitaetsjournalismus-die-systemkrise-des-hierarchisch-elitaeren-publizistischen-fuehrungsanspruchs/
Sicherlich keine Kugel der Kognitionen und Erkenntnis (sogenannte „KUdKOGuERK“), aber irgendwie im Zusammenhang eine Runde Sache anderer Gestalt (nicht weiter definiert).
@Timo: strafbefreiender Rücktritt, wenn man so lange auf das Opfer eintritt, bis es sich nicht mehr regt, und dann wegrennt? Das ist ne mutige Idee, finde ich.
Nachtrag: die UEFA hat Russland (gemeint ist wohl: den russischen Verband) zu einer Geldstrafe in Höhe von 150.000 Euro verurteilt.
@Waschi
Wieso nicht? Die weitere Ausführung der Tat wurde aufgegeben (wetere Tritte wären möglich gewesen). Umstände die gegen eine Freiwilligkeit sprechen sind zumindesr auf den ersten Blick nicht erkennbar (alledings auch nicht völlig ausgeschlossen, anrückende Polizei oder eingreifende Engländer zB).
Solange auf jemanden eintreten, bis er sich nicht mehr rührt und dann wegzurennen ist eine Körperverletzung (ggf. qualifizert), kein versuchtes Tötungsdelikt.