„Ein funktionierendes Rechtssystem ist nicht vorhanden“

Nicht allen Staatsanwälten ist es gegönnt, für das, was ihren Job ausmacht, besonders geeignet zu sein. Dann kann man als Verteidiger nur noch hilflos zusehen.

Es war eine kleine Sache am Rande eines Großverfahrens vor der Jugendstrafkammer. Der Kollege hatte beantragt, die Haftbeschränkungen für seinen Mandanten zu lockern, damit ihn seine Mutter in der Untersuchungshaft besuchen kann. Eigentlich kein Ding. Die Besonderheit hier: Mutter und Sohn waren angeklagt, sich als Mittäter strafbar gemacht zu haben. Aber auch in solchen Fällen muß ernsthaft über eine Ausnahme bei den „§ 119 StPO-Beschränkungen“ nachgedacht werden.

Es kam zur Diskussion – die Strafkammer hörte sich die Argumente der Verteidigung und der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft an. Der Verteidiger berief sich auf Art. 6 GG, ein Schwergewicht. Die Oberstaatsanwältin bemühte das Funktionieren der Strafjustiz und reklamierte eine Verdunklungsgefahr. Soweit, so gut. Mögen die Richter darüber befinden.

Beeindruckend war allerdings der Vortrag der Obersitzungsvertreterin. Für sie stand und steht am zweiten Hauptverhandlungstag fest: Die beiden Angeklagten sind Mittäter! Also keine Angeklagten, denen man erst einmal vorwirft, die ihnen zur Last gelegten Taten mittäterschaftlich begangen zu haben; und ob das tatsächlich so richtig ist, soll die Beweisaufnahme in den weiteren geplanten 8 Hauptverhandlungsterminen zeigen.

Nein, Frau Oberstaatsanwältin betrachtete die Anklageschrift ihrer Behörde quasi schon als Urteil.

Nun, man kann sich ja mal im Eifer einer engagierten Diskussion verplappern. Aber dann muß man auch die Größe haben, sich nach dem berechtigten Hinweis eines Verteidigers auf die Unschuldsvermutung (Art. 6 II EMRK) zu korrigieren. Diese Chance ließ die OStA’in jedoch ungenutzt. Sie entgegnete statt dessen: „Wie soll ich das denn anders formulieren, wo sie doch Mittäter sind?!“

In Bezug auf die anstehende ergänzende Besetzung der Berliner Staatsanwaltschaft mit kompetentem Personal bleibt ja zumindest noch ein Funken Hoffnung für einen Berufsoptimisten wie mich.

Dieser Beitrag wurde unter Staatsanwaltschaft, Strafverteidiger veröffentlicht.

10 Antworten auf „Ein funktionierendes Rechtssystem ist nicht vorhanden“

  1. 1
    Thorsten says:

    Ein Antrag, dass der Vorsitzende beim LOStA darauf hinwirken solle, dass ausschließlich rechts- und verfassungstreue Sitzungsvertreter der StA für dieses Verfahren entsendet werden, hätte sicherlich für richtig gute Stimmung gesorgt. :-D

  2. 2
    WPR_bei_WBS says:

    Ist ja schließlich die objektivste Behörde der Welt – die klagt eben nur Täter an, und keine unschuldigen.

  3. 3
    StPO says:

    Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung, hier in § 157 StPO.

  4. 4
    Thomas says:

    Ist das jetzt nicht etwas sehr formalistisch?

    Der Unterschied von Beschuldigtem, Angeschuldigten, Angeklagtem und Verurteiltem ist hier sicher bekannt. Ich bin selbst vom Fach und natürlich hat man sich auch als Verteidiger ein Bild gemacht. Das ist meistens (nicht immer), dass der Mandant auch ein „Täter“ ist, insbesondere, wenn er es sogar gestanden hat…

    Soll ich mich dann aufregen, wenn ein anderer Beteiligter das gleiche Bild hat und es ausspricht? Der Rechtsstaat ist hier sich nicht in Gefahr!…

  5. 5
    WPR_bei_WBS says:

    @ Thomas

    Auf den ersten Blick schon richtig. Aber wenn man genauer hinschaut, dann kann auf so einer falschen „Formalie“ schnell eine Zirkelschluß-Argumentation aufbauen. So wie hier geschehen („Das sind doch Mittäter, da kann mann doch nicht… „). Und so ein Zirkelschluß ist als solcher mal mehr und mal weniger schwer zu erkennen. Da macht es schon Sinn nach dem Motto „Wehret den Anfängen“ zu handeln.

  6. 6
    Dieter says:

    @Thomas: Ab wann sind es Mittäter? Ab dem Zeitpunkt eines rechtskräftigen Urteils.
    Welches Bild welcher Prozessbeteilitger vom Angeklagten auch hat, spielt gar keine Rolle.

  7. 7
    Thomas says:

    @Dieter: Es sind „Mittäter“ ab dem Zeitpunkt der Tatbestandsvollendung. Das ist ein materiell-rechtlicher Begriff. Auf ein Urteil kommt es hier überhaupt nicht an.

    Man weiß manchmal zu diesem Zeitpunkt nicht, ob gerade der Angeklagte der (Mit-)Täter ist. Und mancher bestreitet das auch noch nach dem Urteil.

    Zu den prozessualen Begriffen: Mit einem rechtskräftigen Urteil wird der „Angeklagte“ zum „Verurteilten“. Ist er deshalb Täter?

  8. 8
    Dieter says:

    @Thomas:
    „Man weiß manchmal zu diesem Zeitpunkt nicht, ob gerade der Angeklagte der (Mit-)Täter ist.“

    Genau.

    Deswegen:
    Solange keine Verurteilung nach welchem § auch immer erfolgt ist, sollten sich die Beteiligten eines Gerichtsverfahrens mit „Meinungen“ zurückhalten. Die Aussage der Oberstaatsanwältin ist insofern eine offenichtliche „Vorverurteilung“.

  9. 9
    justizfreund says:

    Darauf baut sich nicht nur gerne ein Zirkelschluss auf.

    Auch Verkäufer sind erfolgreicher, wenn diese an ihre verkauften Produkte glauben und davon vollständig überzeugt sind.

    In der Justiz hat der Glaube einen ganz besonders hohen Stellenwert was auch häufig an einer mangelhaften oder ungenügenden fachlichen Qualifikation liegt. Da hatte ich es auch schon sehr oft mit dem Dunning-Kruger Effekt zu tun.

    Es gibt auch noch Probleme mit dem Ankereffekt und dem Inertiaeffekt. Dabei ist der Inertiaeffekt das grösste Problem für unschuldig zu verurteilende.

    Ich habe es bis her nur erlebt, dass der Strafantrag automatisch das Urteil war insbesondere, wenn der zu Verurteilende nicht anwaltlich vertreten ist. Egal welcher Schwachsinn darin gestanden hat.
    Und egal welchen Schwachsinn ein psychologischer Sachverständige ausgedacht hat, er wurde übernommen und auch noch als brauchbar für die Veruteilung umgewandelt. Es wird alles für die Verurteilung passend gemacht.

    Jeder war von den juristischen Feststellungen jeweils vollständig überzeugt, weil diese auch von Juristen getätigt worden sind (mit Prädikatsexamen).
    Urteile des BGH, BVerfG und des EuGH, die von Proleten eingereicht werden und aus denen sich eindeutig die Unschuld ergibt (zB. Äusserungen, die eine Beleidigung darstellen sollen), werden einfach ignoriert, weil die Staatsanwaltschaft ja die Straftat und den „Täter“ schon festgestellt hat.

    Eine Beachtung dessen habe ich noch nie auch nur im geringsten erlebt. Man kann zB. die BVerfG-Entscheidungen, aus denen sich die Unschuld ergibt, auch der Staatsanwalschaft schicken und diese tauchen nie auf und werden bereits dort völlig ignoriert. Ganz im Gegenteil betreibt man dort also sogar „Beweisunterdrückung“.
    § 160 Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung
    (2) Die Staatsanwaltschaft hat nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln und für die Erhebung der Beweise Sorge zu tragen, deren Verlust zu besorgen ist.

    Auch am Fall Rudi Rupp kann man sehen wie sich die Fantasygeschichte aufbaut, wenn der Staatsanwalt zu 100% überzeugt ist, dass die zB. die Familie der Täter war. Der Kriminalbeamte: „Die Überzeugung des OStA verselbstständigt sich im Kopf des kleinen Beamten“.

    Das Problem ist, dass diese sich auch gerne im Richter verselbstständigt.

  10. 10
    Joachim Breu says:

    Ein Scheingefecht, meiner Meinung nach. Ehrlicherweise werden Trennungen von Mitbeschuldigten in der Hoffnung verfügt, einer davon werde aus Langeweile mit Strafverfolgungspersonal frei über die Tat sprechen oder alle würden davon absehen, widerspruchsfrei unterhaltsame, aufwändig zu widerlegende Legenden zu spinnen. Gibt’s außerhalb noch versteckte Beweismittel – d.h., gute Gründe anzunehmen, dass es die noch gibt (z.B.: die mutmaßliche Leiche fehlt) – findet Verdunkelung nicht in der JVA statt, sondern draußen.