Eine außergewöhnliche Konstellation führte in einer Steuerstrafsache zur Entlassung unseres Mandanten, nachdem der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt werden *mußte*.
Den drei Angeklagten wird vorgeworfen, an einem Umsatzsteuer-Karussell beteiligt gewesen zu sein. Bummelige 90 Millionen Euro reklamiert die Staatsanwaltschaft als Steuerschaden. Die Ermittlungen liefen seit 2014, die Anklage stammt aus 2016, die Hauptverhandlung vor der Wirtschaftsstrafkammer begann im Frühjahr 2017.
Derjenige, den die Staatsanwaltschaft als den Haupttäter des Trios bewertet, war bereits Ende 2016 von der Untersuchungshaft verschont worden. Unser Mandant – nach dem Ranking der Staatsanwaltschaft angeblich die Nummer 2 – wurde (erst) Anfang 2017 inhaftiert, obwohl der Haftbefehl bereits im Oktober 2016 erlassen wurde.
Die Staatsanwaltschaft und das Amtsgericht unterstellten unserem Mandanten, er würde sich dem Verfahren durch Flucht entziehen. Weggelaufen war er aber trotz Kenntnis von dem Ermittlungsverfahren nicht. Im Gegenteil: Aus familiären Gründen stabilisierte sich seine Unbeweglichkeit.
Dennoch: Die Fluchtgefahr wurde mit dem Standard-Textbaustein „Fluchtanreizbietende Straferwartung“ begründet. Viel mehr hatten die Verfolger nicht – von dem üblichen Unsinn der Auslandsbeziehungen aufgrund fremder Staatsangehörigkeit der Großeltern einmal abgesehen.
Allerlei Versuchen der Verteidigung, den Haftbefehl außer Vollzug zu setzen, stellte sich die Kammer mit wiederholten Tricksereien und zahlreichen aus dem Hut gezauberten Hühnchen entgegen.
Am siebten Hauptverhandlungstermin ergab sich die starke Vermutung, daß der Hauptangeklagte verhandlungsunfähig ist; zumindest konnte seine Verhandlungsfähigkeit nicht positiv festgestellt werden. Das Verfahren wurde ausgesetzt, damit er intensiver untersucht werden kann. Wenn er sich denn untersuchen läßt.
Diese Aussetzung war dann der Tropfen, der endlich das Verhältnismäßigkeitsfaß zum Überlaufen brachte. Die Strafkammer, die sich – zuvörderst in Person des Vorsitzenden – mit Klauen und Zähnen gegen die Haftverschonung unseres Mandanten gewehrt hat, konnte nun wirklich nicht mehr anders:
Der Haftbefehl wurde außer Vollzug gesetzt. Allerdings nicht einfach so, sondern gegen ein paar bunte Auflagen: Dreimal pro Woche einem Polizeibeamten einen schönen guten Tag wünschen, sämtliche Ausweise und Pässe abgeben und eine Kaution in Höhe von 10.000 Euro hinterlegen.
Die Familie und Freunde haben gesammelt, damit sie das Geld auf die Theke der Hinterlegungsstelle beim Amtsgericht legen konnten, um unseren Mandanten den Blechnapf zu ersparen:
Im November – so der Plan – soll es dann nochmal von vorn beginnen. Mit einem neuen Vorsitzenden. Den alten hat man ein ruhigeres Fahrwasser in der Verwaltung abgeschoben; das Leben als Chef einer Wirtschaftsstrafkammer hat ihn – so jedenfalls mein Eindruck – an die Grenzen seiner ihm noch verbliebenen Leistungsfähigkeit geführt. Er bedauerte allerdings, jetzt nicht mehr das Hühnchen den Monsterhahn kennen lernen zu können, den ich mit ihm gerupft hätte.
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Bei 90 Mio sollten doch noch 10 k für die Kaution über sein :-))
.. ich dachte immer, in DE gibt es eine Ausweispflicht.. Wie genau soll man sich ausweisen, wenn man gerichtlich angeordnet alle Ausweise abgegeben hat? Ist der Führerschein da auch miteingeschlossen?
Immer wieder erschreckend, wie leichtfertig Richter mit der Freiheit anderer Menschen umgehen…
Gab es keine Möglichkeit, LG oder KG anzurufen (Haftprüfung, Haftbeschwerde, …)?
Wie hat sich denn das Gericht aus dem Problem rausgeredet, dass der Angeklagte während der mindestens drei Monate die zwischen Erlassen des Haftbefehls und Vollzug dessen lagen, nicht bereits die Beine in die Hand genommen hat?
Man möchte doch meinen, dass jemand der Abhauen will, das auch tut und nicht erst ein Vierteljahr Däumchen dreht.