Keine audio-visuelle Protokollierung trotz vorhandener Möglichkeiten

In einem Saal des Landgerichts steht der Tisch für die Zeugen ziemlich nahe zum Richtertisch. Die meisten Verteidiger und Angeklagten sehen die Zeugen also nur von hinten. Sie können also dessen Gestik und Mimik bei den Aussagen nicht sehen. Allenfalls die roten Ohren sind erkennbar, jedenfalls bei Kurzhaarschnitten. Deswegen stelle ich regelmäßig Anträge zur Sitzordnung, damit ich imstande bin, einer Pinocchio-Nase beim Wachsen zuzusehen.

Die Verwaltung des Gerichts will solchen Anträgen, die oft für reichlich Turbulenzen sorgen, zuvorkommen und hat eine Videoanlage installiert.

Vorn-oberhalb des Zeugentisches hängt nun eine Kamera, dahinter ein Beamer und schließlich vor der Galerie eine Leinwand. Einen weiteren Beamer gibt es im Zuschauerraum, damit auch die Gäste den Zeugen von vorn sehen können, hinten auf der Leinwand.

Insgesamt eine sehr gute Sache.

Da liegt nun der Gedanke nahe, die Zeugenvernehmung gleich aufzuzeichnen, zumal alle Beteiligten ohnehin in ein Mikro sprechen, wenn sie verhandeln. Mein entsprechender (informeller) Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, das „wir das hier noch nie so gemacht haben„. Ich habe das Begehren „aus Gründen“ nicht weiter verfolgt.

Aber da hat man nun mal die Gerätschaft für eine neutrale und nahezu vollständige Protokollierung der Hauptverhandlung vor einer Strafkammer, und dann wird sie nicht genutzt. Unglaublich! Statt dessen wird überhaupt kein Inhalt der Verhandlungen protokolliert. Jeder schreibt für sich das auf, was er für wichtig hält. Und das unterscheidet sich dann ebens meistens – je nach Interessenlage und je nach Filter, der bei jedem Menschen ein anderer ist. Jeder merkt sich etwas anderes.

Es gibt kein überzeugendes Argument dafür, auf eine Protokollierung einer Verhandlung zu verzichten, in der regelmäßig über ganze Biographien von Menschen entschieden wird. Daß aus technischen Gründen keine Aufzeichnung erfolgen kann, wird durch die Installation in diesem Gerichtssaal widerlegt.

Update/Ergänzung:

Dazu ein Tweet von @KanzleiHoenig.

Dieser Beitrag wurde unter Justiz, Richter, Strafverteidiger, Verteidigung, Zeugen veröffentlicht.

11 Antworten auf Keine audio-visuelle Protokollierung trotz vorhandener Möglichkeiten

  1. 1
    Ö-Buff says:

    Dass ich es richtig verstehe: Anstatt den Zeugentisch zwei oder drei Meter nach hinten zu rücken, investiert man mal eben ein paar Tausend Euro in so eine Technik?

  2. 2
    RA GOHLKE HB says:

    Guten Morgen,
    danke für den Beitrag.

  3. 3
    Neric says:

    Wenn die audio-visuelle Protokollierung zur Regel wird, müsste man letztlich das Rekonstruktionsverbot aufgeben. Dann müsste der 1. Senat auf einmal in der Sache argumentieren und das möchte niemand.

  4. 4
    Der wahre T1000 says:

    Es liegt auf der Hand, dass etwaige Aufzeichnungen nahezu nie nützlich sein dürften, um eine härtere Verurteilung zu erreichen, aber stets um Urteile durch den Verteidiger anzugreifen. Und wenn es nur das Zögern bei einer Aussage sein sollte, was dann als Aufhänger dient.

    Auf der anderen Seite: wenn die Sache öffentlich ist, warum soll sie dann nicht sauber dokumentiert werden?

    Mein Vorschlag: wenn der Angeklagte die Kosten für die Aufzeichnung vorab (!) bezahlt, dann sollte sie seinem Wunsch entsprechend angefertigt (und auch für die Öffentlichkeit ins Internet gestellt) werden. So kann jeder Angeklagte selbst entscheiden, was er möchte. Beim Freispruch bekommt er das Geld natürlich zurück.

  5. 5
    Daarin says:

    @Der wahre T1000 (4):
    Ui, verschiedenes Recht je nachdem ob man es sich leisten kann die Aufzeichnung vorab zu bezahlen oder nicht. Ich interpretiere das GG dann doch leicht anders.

  6. 6
    Caron says:

    Das ist zwar im Prinzip richtig, muss aber auf breiterer Basis kommen als durch einen Antrag in einem Einzelverfahren. Schließlich muss auch ein standardisiertes Verfahren zu Sicherung und Archivierung etabliert werden, und nicht der USB-Stick von einer einzelnen aufgezeichneten Verhandlung irgendwo rumfliegen.

  7. 7
    HugoHabicht says:

    Natürlich kann man nicht einfach in einem Strafverfahren damit anfangen, denn das würde u.a. dem Gleichheitsgrundsatz zuwider laufen. Der eine Angeklagte bekommt die Protokollierung, der im Nachbarsaal nicht.

    Warum der in der westlichen Welt eigentlich allgemein übliche Standard, Aussagen (insbesondere solcher Beschuldigter bei der Polizei) audiovisuell aufzuzeichnen nicht längst in Deutschland eingekehrt ist, ist unerklärlich. Liegt vermutlich daran, dass 85% der Bevölkerung Strafverfahren nur aus dem Fernsehen kennen.

  8. 8
    Der wahre T1000 says:

    Ich sehe keine Ungleichbehandlung, auch wenn eine gewünschte Aufnahme vorab bezahlt werden müsste.

    Zunächst mal wird durch die Aufnahme ja niemand besser oder schlechter gestellt. Oder wollte man den Richtern wirklich unterstellen, dass sie „Kundschaft“ ohne Aufnahme schlechter/besser behandeln? Es wird lediglich eine zusätzliche Dokumentation angefertigt. Diese Dokumentation ist für ein faires Verfahren auch nicht notwendig, wie man offenkundig am Ist-Zustand sieht. (Außer man unterstellt bereits heute, dass Verfahren unfair sind.) Hier geht es doch nur darum, dass der Beklagte eine freiwillige Zusatzdienstelistung in Anspruch nehmen möchte und dafür vorab bezahlen soll.

    Es ist ja auch nicht unfair(es Verfahren), wenn jemand sich drei Wahlverteidiger engagiert, während ein Anderer ohne Geld mit dem Pflichtverteidiger auskommen muss.

    Zudem gilt bei den meisten Gerichten: wer vom Gericht was will, muss erstmal bezahlen. Das ist beim Strafprozess nur deswegen anders, weil dort die Klage von anderer Seite kommt. Sobald der Beklagte aber seinerseits was will, z.B. einen Gutachter, muss er selbst dafür aufkommen. Warum sollte das bei einer Wahlaufzeichnung anders sein?

    Im Leben/Knast sind eben nicht alle gleich. Wer mehr Geld hat, der kann sich mehr leisten (und bekommt vom Strafverteidiger eine höhere Rechnung).

  9. 9
    meine5cent says:

    @ blogbetreiber:
    Angesichts der doch auch in der Fachliteratur recht einhelligen Meinung, dass die angeblichen körpersprachlichen Lügensignale schlichtweg nicht belegbar sind und der Fragwürdigkeit auch der Ekmanschen Lehre von den millisekundenlangen Mikroexpressionen wundert es mich etwas, dass man immer noch meint, freie Sicht auf den Zeugen sei unerlässlich.

    @Neric: Vielleicht haben Sie verpasst, dass ausgerechnet der ehemalige Vorsitzende des 1. Senats sich genau für eine derartige Aufzeichnung ausgesprochen hat. Siehe die BRAK-Stellungnahme 1/2010.

  10. 10
    Engywuck says:

    Bei der Viedoüberwachung (egal ob anlasslos oder nicht) wird argumentiert, dass sich das Verhalten von Menschen ändere, wenn sie wissen, dass sie gefilmt werden (können) bzw. eine Aufzeichnung stattfindet. Da liegt es doch nahe anzunehmen, dass dies auch im Gerichtssaal der Fall wäre.

    Stellt sich also die Frage: wollen wir die damit einhergehenden Verhaltens- (und ggf. Aussage-)Änderungen?

  11. 11