Normativ geschädigt

Wenn über Wirtschaftstrafsachen berichtet wird, geht es meist um einen Schaden.

Damit sich das gemeine Volk auch dafür interessiert, handelt es regelmäßig sich um ein solchen in großer Höhe. Und geschädigt ist sehr oft die Solidargemeinschaft, also vermeintlich der Volksangehörige und seine -genossen.

Abrechnungsbetrug?
Ende März konnte man in einer Agenturmeldung über ein Wirtschaftsstrafverfahren lesen, die Staatsanwaltschaft gehe von einem Schaden für Krankenkassen in Höhe von rund 148.000 Euro aus.

148.000 Euro
Da muß eine alte Frau lange für stricken. Fehlt den Krankenkassen nun dieser Betrag? Nein! Ganz im Gegenteil. Am Ende haben die Kassen genau diesen Betrag gespart; selbst dann, wenn die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft zutreffen sollten.

Sozialrecht
Zwischen Pflegediensten und Krankenkassen gibt es vertragliche Vereinbarungen. Danach gibt es nur dann eine Vergütung beispielsweise für’s Blutzuckermessen am Patienten, wenn das Meßeisen von einer Pflegefachkraft bedient wird. Mißt die Hilfskraft, gibt’s kein Geld für die Messung. Auch dann nicht, wenn die Fachkraft es nicht besser oder anders gemacht hätte.

Strafrecht
Rechnet dann der Pflegedienst dafür trotzdem etwas ab und zahlt die Kasse die Rechnung, denkt der Strafjurist an den Betrug, § 263 StGB.

Schaden
Der Betrug setzt u.a. einen Schaden voraus. Ob der hier vorliegt, liegt nicht auf der Hand.

Denn: Der Patient hat seine Leistung ja ordnungsgemäß erhalten. Die Kasse muß die Leistung (das vertragswidrige Blutzuckermessen) nicht finanzieren. Und der Patient kann diese Leistung nicht noch einmal verlangen.

Unter dem Strich liegt der Schaden also beim Pflegedienst: Denn er hat die Leistung erbracht, wenn auch vertragswidrig, bekommt dafür aber kein Geld (oder muß es zurückzahlen). Die Kasse muß nichts aufwenden. Und – das wichtigste: Der Patient ist versorgt.

Ultimata Clava
Sozialrechtlich mag dieses Ergebnis gewünscht sein. Aber ist es erforderlich, dieses irrsinnige System mit der Keule des Strafrechts zu stützen?

Irrsinnig?
Ein eindeutiges Ja zeigt dieses Beispiel:

Die nördliche Seite der Waldstraße in Eichwalde liegt in Berlin, die südliche in Brandenburg. Im Süden dürfen Hilfskräfte den Blutzucker messen und abrechnen, im Norden nicht. Weil es in Brandenburg eben vertraglich anders geregelt ist. Auf der einen Straßenseite gibt es mindestens 6 Monate Knast für die selbe Tätigkeit, die auf der anderen Seite üblich und straflos ist.

Familienhilfe
Geht es den Kassen nun darum, die (Berliner) Patienten vor nicht ausgebildeten Hilfskräften zu schützen? Auch das nicht:

Der Patient hat keinen Anspruch auf Erstattung der Pflegedienstleistung, also das Blutzuckermessen, wenn er gemeinsam mit seiner Ehefrau in einem Haushalt lebt. Dann ist auch in Berlin nicht mehr die Fachkraft notwendig, sondern das kann (soll) dann die Ehefrau machen, auch dann wenn sie gelernte Traktoristin und keine examinierte Krankenschwester ist.

Willkür?
Es scheint also ziemlich willkürlich zu sein, wo die rote Linie gezogen wird. Diese Willkür haben sich die Strafjuristen ausgedacht und ihr dafür den Begriff des normativen Schadens verliehen.

Notwendig?
Es mag im Sozialrecht eine Notwendigkeit dafür bestehen, unterschiedliche vertragliche Regelungen zu leben. Eine einfache Übernahme dieses Gedankens ins Strafrecht führt zu nicht nachvollziehbaren Ergebnissen.

In diesem Fall:
Es sind unstreitig beanstandungslos Leistungen in einem Gegenwert von 148.000 Euro erbracht worden. Die Krankenkassen müssen dafür keine Mittel der Versichertengemeinschaft aufbringen. Die Pflegedienste bekommen diese Arbeit nicht vergütet, sondern wurden mit einer (dilettantisch zusammengeschusterten) Anklage
überzogen.

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Bild: © Michael Horn / pixelio.de

Dieser Beitrag wurde unter Strafrecht, Wirtschaftsstrafrecht veröffentlicht.

13 Antworten auf Normativ geschädigt

  1. 1
    RA SG says:

    Liegt der Schaden nicht darin, dass die Abrechnungen erst einmal ausgeglichen werden (oder beim Versuch: ausgeglichen werden sollen)? Und eventuelle Rückzahlungsansprüche = Schadenswiedergutmachung lassen dann den Tatbestand – konsequenterweise – nicht entfallen.

  2. 2
    @ndreas says:

    Was ich nicht ganz verstehe: Wirft man denn dem Pflegedienst vor, die Leistung abgerechnet zu haben? Dann scheint mir ja doch ein Betrug oder ein Versuch desselben vorzuliegen – sofern die Leistung nicht von einer Person mit der geforderten Ausbildung durchgeführt wurde. Ob das angesichtes der Anekdote sinnvoll ist sei mal dahingestellt.
    Das bloße Blutzuckermessen ohne es abzurechnen kann ja in der Tat nicht strafbar sein, zumal nicht als Betrug da ja wie beschrieben Patienten oder Angehörige das häufig selbst machen (sollen).
    Oder ist das Problem, dass der Pflegedienst die Messung durch nicht ausreichend ausgebildete Kräfte durchgeführt hat und dadurch anderen Diensten der Betrag von 148.000 Euro entgangen ist?
    Ich glaube das zugrundeliegende Problem und die Anekdote zu verstehen aber der Anlass der Anklage ist mir nicht klar geworden – aber vielleicht ist ja genau das der Grund weshalb der Beitrag mit „wurden mit einer (dilettantisch zusammengeschusterten) Anklage
    überzogen“ endet,

  3. 3
    ct says:

    Das wirkt schon ziemlich willkürlich.

    Laut der Agenturmeldung kommt aber hinzu, dass die Messungen durch Hilfskräfte ausgeführt aber durch Fachkräfte quittiert wurden. Sofern das zutrifft haben sich die Angeklagten nicht im Wirrwarr des Sozialrechts verirrt, sondern wohl bewusst ein Vorgehen entwickelt, um eine eigentlich nicht vergütungsfähige Leistungserbringung abzurechnen (wohl mit dem Ziel, die eigenen Kosten klein zu halten).

    Was den Schaden angeht halte ich es mit meinen Vorrednern: Aufgrund der zunächst erfolgten (oder zumindest angestrebten) Vergütung liegt eine Vermögensgefährdung in Gestalt des Einbringlichkeitsrisikos des Rückzahlungsanspruches vor. Würde man dies nicht genügen lassen, wären letztlich alle Fälle des Eingehungsbetruges straflos, da auch dort ja zivilrechtlich stets das Geleistete zurückverlangt werden kann.

  4. 4
    HugoHabicht says:

    Auf der einen Straßenseite gibt es mindestens 6 Monate Knast für die selbe Tätigkeit, die auf der anderen Seite üblich und straflos ist.
    Nein, den Knast gibt es nicht für’s Blutzuckermessen, sondern für das Abrechnen von Tätigkeiten, die nicht in der geschuldeten Form erbracht wurden.

    Natürlich ist das Betrug. Sofern nicht nur die Kranken- oder Pflegekasse, sondern auch der jeweilige Patient über die Qualifikation der die Messung vornehmenden Person getäuscht wurde, könnte man zusätzlich über Körperverletzung nachdenken, weil mglw. keine wirksame Einwilligung mehr besteht.

  5. 5
    mendel says:

    Welcher Schaden entstanden ist, kommt darauf an, mit was man vergleicht. Lautet das Vergleichsszenario „Blutzuckermessungen vertragsgemäß (nicht) abgerechnet“, so entstand den Kassen der Schaden, weil sie mehr zahlten als sie mussten. Ist das Vergleichsszenario aber „Blutzuckermessungen vertragsgemäß (wie abgerechnet) durch Fachpersonal durchgeführt“, so ergibt sich im Ergebnis materiell kein Schaden, da die Messungen ja korrekt durchgeführt wurden. Die Patienten und die Kassen sind nicht schlechter gestellt, als sie es wären, wenn der Pflegedienst die Leistungen vertragsgemäß erbracht hätte.

    Ich denke, der Knackpunkt des Betrugs ist die Vorspiegelung falscher Tatsachen und der daraus folgende Irrtum. Den Krankenkassen wurde vorgespiegelt, die Leistungen seien durch Fachpersonal erbracht worden. Hätten die Kassen die wahre Sachlage gekannt, hätten sie die Messungen nicht gezahlt. Deswegen muss das Vergleichsszenario „Blutzuckermessungen vertragsgemäß (nicht) abgerechnet“ lauten, und der durch den Irrtum (=Betrug) entstandene Schaden ist nicht „nur“ normativ.

  6. 6
    Die andere Seite says:

    Auf § 263 (5) StGB ist noch keiner gekommen? Beihilfe für die examinierten Pflegekräfte, die ja wissentlich falsch quittiert haben? Und wenn die Blutzuckermessung nicht aus einer Laune heraus erfolgte, dann wird der eine oder andere Kunde ja auch noch eine Insulin-Injektion erhalten haben. Da ist die Körperverletzung ja auch nicht mehr weit.

    Wenn ich Ihnen die Brieftasche klaue und Wochen später diese bei mir durch Ermittlungspersonen gefunden wird, Sie diese Brieftasche mit Inhalt sodann zurückerhalten, habe ich also keinen Diebstahl begangen? Nicht mal einen Versuch?

    Interessant wäre die Frage, wie der Sachverhalt überhaupt ans Licht gekommen ist. Bei irgendwem muss ja wohl ein Unrechtsempfinden geweckt worden sein.

  7. 7
    Die andere Seite says:

    Ach nee, unter der Überschrift “ Irrsinnig?“ deuten Sie ja schon auf den (5) hin. Dann ziehe ich die erste Frage zurück.

  8. 8
    Der wahre T1000 says:

    Zwei Parteien vereinbaren etwas. Der eine erbringt eine (definierte) Leistung, der andere bezahlt die Leistung. Nun gaukelt der Leistungserbringer vor, er habe eine andere Leistung erbracht, als wirklich erbracht wurde und will diese abrechnen. Das ist ganz klar ein (versuchter) Betrug, was denn sonst?

    Der Verweis darauf, dass zwei andere Parteien einen anderen Vertrag geschlossen haben, nach der eine andere Leistung vergütet werden soll (die im vorliegenden Vertrag nicht vergütet wird), dürfte nun wirklich nicht beachtlich sein.

    Auch die Behauptung dieLeistung sei ordnungsgemäß erbracht worden, kann ich nicht nachvollziehen. Nehmen wir mal an Sie müssten ins Krankenhaus. Ein Arzt soll Sie untersuchen, Verdacht auf Herzinfarkt. Dann kommt eine Krankenschwester und untersucht Sie. Abgerechnet wird an die Kasse eine ärztliche Untersuchung. Meinen Sie bei der Untersuchung durch die Krankenschwester wurde die Leistung ordnungsgemäß erbracht?

  9. 9
    HugoHabicht says:

    @Der wahre T1000
    Das Beispiel mit der Krankenschwester braucht es gar nicht. Es sind in Berlin schon reihenweise „Chefärzte“ wegen Betruges verknackt worden, weil sie „Chefarzt“ bei Privatversicherten abgerechnet haben, aber dummerweise der Oberarzt die Untersuchung gemacht hat. Die sind formal sogar gleich qualifiziert, trotzdem will, wer Chefarzt zahlt, halt Chefarzt haben. Und wenn der dann lieber Golf spielt, ist es halt Betrug.

    Wenn ich RA Hoenig buche und RA Hoenig bezahle, aber in der Verhandlung taucht nur der Junganwalt mit frisch bestandenem Examen auf, wäre es auch Betrug.

  10. 10
    Der Gerd says:

    Blutzuckermessung muss durch eine Pflegefachkraft durchgeführt werden? Wäre ich nie drauf gekommen.

  11. 11
    WPR_bei_WBS says:

    Also ich verstehe das aufhebens hier jetzt auch nicht so ganz. Es wurde versucht etwas abzurechnen, dass man tatsächlich aufgrund des Vertrages nicht abrechnen durfte. Sofern die Verhandlung ergab, dass das ganze mit Absicht gemacht wurde, ist das halt Betrug. Ob man im Rahmen anderer Verträge das ganze hätte abrechnen dürfen ist doch völlig unerheblich.

    Wenn ich mit meinem Strafverteidiger vereinbare, dass er mir nur seine STunden verrechnen darf, er aber trotzdem (auch) die des Referendars verrechnet, dann ist das Betrug. Ob mein Anwalt jetzt mit jemand anderem vereinbart hat, auch den Referendar abrechnen zu können kann ja schlecht mein Problem sein.

  12. 12
    Der wahre T1000 says:

    Ich denke die Sache ist juristisch ziemlich eindeutig, selbst für micb als Laien.

    Bei genauerem Nachdenken finde ich jedoch, dass der angeklagte Mandant zumindest moralisch im Recht ist. Es braucht keine ausgebildete Pflegekraft für einen Blutzuckertest, wie ich aus eigener Erfahrung mit meiner Tochter weiß. Wohl aber braucht es jemanden, der den Test macht. Und warum wird der nicht bezahlt? Allenfalls kann man darüber nachdenken eine kleinere Bezahlung vorzunehmen.

    Es erschliesst sich mir auch nicht, warum man so einen idiotischen Vertrag schliesst. Man kann doch ganz klar sagen, dass man nicht genug ausgebildete Kräfte hat und dass man deswegen die Tests nicht durchführen kann. Dies gehe nur mit Hilfskräften, die aber eben auch bezahlt werden müssen. Wie man sieht können andere Dienste solche Verträge schliessen.

  13. 13
    Hufflepuff says:

    @T1000, zu Ihrem Satz: „Es erschliesst sich mir auch nicht, warum man so einen idiotischen Vertrag schliesst.“

    Die Krankenkassen schreiben diese Verträge aus und haben eine enorme Marktmacht. Zum Zug kommt der billigste Anbieter. Das ist dann leider nicht der, der qualitativ am Besten ist.

    Man erlebt das im Sozialbereich auch bei der Hilsmittelversorgung (Versorgung pflegebedürftiger Personen mit „Windeln“, Kathetern, Stomaprodukten, Rollatoren, etc.). Da gibt es halt dann beispielsweise im Windelbereich nicht das hochwertige Produkt der Firma T***, welches angenehm zu tragen ist, sondern das Konkurrenzprodukt einer anderen Firma, welches das angenehme Hautgefühl einer sandpapiergefüllten Plastikhose vermittelt.