Video gucken beim Landgericht

Das Kriminalgericht in Moabit hat schon ein paar Tage hinter sich. Manches in dem Bau ist noch in dem Zustand von Februar 1882, wie zum Beispiel das Treppenhaus oder Transport der Aktendeckel.

Aber es gibt – wenn auch in begrenztem Umfang – echten High Tech. Jedoch nicht, weil man den Eindruck einer fortschrittlichen Strafjustiz machen möchte. Sondern weil man es muß. Weil es im Gesetz vorgeschrieben ist. Zum Beispiel in § 247a StPO.

In einer Strafsache, in der es um den Vorwurf des Mißbrauchs einer Minderjährigen geht, muß die Geschädigte als Zeugin vernommen werden. Das ist keine Veranstaltung, an der eine junge Frau freiwillig und mit Freude teilnehmen möchte. Die Anwesenheit von sieben Angeklagten, 13 Verteidigern, einer Staatsanwältin und einer Nebenklägervertreterin sowie des fünfköpfigen Gerichts ist nicht der Rahmen, in dem man gern über „sexuelle Handlungen“ sprechen möchte, die an, vor und mit einem vorgenommen wurden.

Deswegen hat das Gericht beschlossen:

Es wird gemäß §§ 247a Abs. 1 Satz 1, Hs. 1 StPO angeordnet, dass sich die Zeugin bei ihrer Vernehmung an einem anderen Ort aufhält und die Aussage zeitgleich in Bild und Ton in den Sitzungssaal übertragen wird.

„An einem anderen Ort“ bedeutet in der Moabiter Gerichtspraxis: Die Zeugin sitzt irgendwo im Gericht in einem Raum, der ebenso wie der Gerichtssaal mit Audio- und Videotechnik ausgestattet ist. Ihr Konterfei und ihre Aussagen werden dann auf diese Leinwand im Saal übertragen.

Die Zeugin wiederum kann nur die Berufsrichter sehen. Die anderen Verfahrensbeteiligten begegnen ihr allenfalls während der Pausen in der Gerichtskantine. Das ist zwar auch nicht so schön, kann aber nicht zuverlässig verhindert werden.

Die Qualität der Ton- und Bildübertragung hat mich überrascht. Daran gibt’s nicht auszusetzen. Problematisch ist aber Befragung der Zeugin, insbesondere durch die Richter und die Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft.

Da stets nur ein Mikrophon „offen“ ist – nämlich desjenigen, der das Fragerecht hat, hört die Zeugin z.B. die Zwischenrufe der anderen Beteiligten nicht. Dies ist dann besonders mißlich, wenn der Fragerechtsinhaber eine Frage stellt, die von anderen Beteiligten als unzulässig gerügt wird.

Dieser Rügeruf verhindert in einer „normalen“ Zeugenvernehmung ziemlich zuverlässig die Antwort einer Zeugin. In der Konstellation mit der Videoübertragung folgt die Anwort jedoch auch auf unzulässige Fragen sofort, weil die Zeugin die Intervention nicht bemerkt.

Die Anwort setzt sich in der Folge auch dann in den Köpfen der Beteiligten fest, obwohl sie sie gar nicht hören durften, weil die Frage unzulässig war.

Der Vorsitzende muß in solch einer Prozeßsituation dann quasi den – nicht vorhandenen – Not-Aus-Schalter betätigen, was ihm in diesem Verfahren erst nach einiger Übung gelungen ist.

Trotz der funktionierden Technik bleibt es eine schwierige Situation, die die Rechte der Angeklagten erheblich beeinträchtigt. Gegen die Anordnung des Gerichts gibt es allerdings kaum ein effektives Gegenmittel: „Die Entscheidung ist unanfechtbar.“ Steht seit dem 1.11.2013 im Gesetz. Nur ein kleines Detail, das die weitere Reduzierung der Rechte eines Angeklagten dokumentiert.

Die Angeklagten und ihre Verteidiger sind ja schon dankbar dafür, daß der Vorsitzende eine unmittelbare Befragung der Zeugin gestattet hat. Das hätte er – nach pflichtgemäßem Ermessen – auch anders entscheiden können, § 241a StPO. Dann wäre die Zeugenvernehmung vollends zur Farce geworden.

In meinen Augen hat der Strafprozeß durch diese Einschränkungen, die erst die Technik möglich gemacht hat, nicht gewonnen. Das digitale Zeitalter, wenn es denn mal im Strafprozeß angekommen ist, hat nicht nur Vorteile …

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Bild Treppenhaus Kriminalgericht: © RA Akin Hizarci / Rechtsanwaltskanzlei HIZARCI & TÜRKER
Bild Notausschalter: © Hans-Jörg Deggert / pixelio.de

Dieser Beitrag wurde unter Justiz, Strafrecht veröffentlicht.

13 Antworten auf Video gucken beim Landgericht

  1. 1
    Fry says:

    Leider reicht meine Fantasie nicht aus, mir jetzt eine konkrete unzulässige Frage vorzustellen.
    Ist es eine von der Art „Wann haben Sie aufgehört Ihre Frau zu schlagen?“

  2. 2
    Dante says:

    Man muss wohl schon Strafverteidiger sein, um darin allein eine Einschränkung der Rechte des Angeklagten zu sehen, wenn minderjährige Zeugen nicht mehr von 13 Strafverteidigern und sieben Angeklagten persönlich „auseinander genommen werden“.

    MIr ist schon klar, dass sie für ihren Mandanten kämpfen wollen und müssen.

    Wenn das aber einen Rahmen erhält, der die Zerstörung der Psyche eines minderjährigen, möglichen Opfers nicht geradezu garantiert, würde ich das als rechtsstaatlichen Fortschritt werten.

  3. 3
    Jonas says:

    Ich sehe das als juristischer Laie ähnlich wie Dante. Ich hatte leider bereits die Situation in einem Mißbrauchsprozess als Zeuge zugunsten des Opfers auszusagen und dabei miterlebt, wie das Opfer und Zeugen dann von den Verteidigern angegangen wurde.

    Ja, ich verstehe das Problem, das man hier als Verteidiger hat. Aber ich finde die beschriebene Lösung einen akzeptablen Mittelweg, der für beide Seiten nicht optimal sein mag, aber auch bei weitem nicht das Schlimmste.

  4. 4

    Ok, Dante und Jonas, jetzt haben wir das Ganze unter der Prämisse „hochnotpeinliche Befragung einer mißbrauchten MInderjährigen durch den Krawallverteidiger“ betrachtet.

    Nun noch einmal aus der Perspektive des unschuldigen Angeklagten. Oder mit einer lügenden Zeugin. Und schließlich noch mit der Vorgabe, die Verteidiger gehen ergebnisoffen, adäquat und mit angemessen Umgangsformen in die Beweisaufnahme.

    Vielleicht erschließt sich dann doch noch die Brisanz dieser Konstellation.

  5. 5
    quicker-easier says:

    @crh:

    1. Selbst wenn die Zeugin lügen sollte, ist sie immer noch minderjährig. Und soll über sehr persönliche Dinge sprechen. Und hat deshalb einen Anspruch darauf, vor den Belastungen des Prozesses so gut wie möglich geschützt zu werden.

    2. Dass die Zeugin lügen und der Angeklagte unschuldig sein soll, ist ebenso eine unzulässige Prämisse wie die Grundannahme, der Angeklagte sei ja sowieso schuldig. Man kann das ganze also schlichtweg nicht aus dieser Perspektive betrachten.

    3. Dass die Verteidiger ergebnisoffen, adäquat und mit angemessen Umgangsformen in die Beweisaufnahme gehen, kommt sicher vor. Ist aber prinzipiell vor allem Wunschdenken. Vor allem gehört es eben prinzipiell gerade nicht zum Berufsbild des Verteidigers, ergebnisoffen in die Beweisaufnahme zu gehen.

    Vor allem: Dass die Befragung nur durch den Richter stattfinden soll, ist nicht irgendeine absurde gesetzliche Hintertür, sondern schlicht der im Gesetz vorgesehene Normalfall. Und zwar nicht nur im deutschen Recht – wenn der deutsche Gesetzgeber etwas daran ändern wollte, wäre das ein glatter Verstoß gegen EU-Recht und würde zu einem Vertragsverletzungsverfahren führen.

    Die Behauptung, durch diese gesetzlichen Regelungen würde die Zeugenvernehmung „vollends zur Farce“, ist einfach abwegig.

    • Art. 6 EMRK gilt auch in solchen Strafverfahren, in denen Minderjährige behaupten, sexuell mißbraucht worden zu sein. Die von Ihnen unter Ziffer 2 genannte Prämisse sieht der Menschenrechtsgesetzgeber anders; in Art. 6 II EMRK hat er deswegen die Unschuldsvermutung festgeschrieben.
       
      Und dann verweise ich noch auf die Überschrift zu der Vorschrift, die Fairness gegenüber dem Angeklagten fordert.
       
      Je „besser“ im Strafprozeß Zeugenrechte ausgestaltet werden, desto „schlechter“ fallen die Rechte der Angeklagten aus. Ich möchte in keinem Verfahren verteidigen, in dem es ausgeschlossen ist, Zeugenaussagen zu hinterfragen bzw. deren Glaubhaftigkeit in Zweifel zu ziehen (Stichwort: Nullhypothese) und in dem die Glaubwürdigkeit der Zeugin an deren Alter festgemacht wird.
       
      Aber vielleicht argumentiere ich jetzt hier auch zu sehr unter dem Eindruck des aktuellen Falls, in dem mittlerweile vier verschiedene, sich in großen Teilen widersprechende Schilderungen ein und desselben Hergangs durch die Zeugin vorliegen. crh
  6. 6
    Roland B. says:

    Antworten auf unzulässige Fragen könnte man problemlos verhindern, wenn entweder ein Anwalt der Zeugin zur Seite steht und sie bei problematischen Antworten erst mal bremst, oder wenn der Richter eine Möglichkeit hätte, das Mikrofon der Zeugin zu blockieren, bis er grünes Licht gegeben hat.
    Sicher auch nicht ganz so als ob die Zeugin im Gerichtssaal säße, aber doch besser als aktuell.

  7. 7
    quicker-easier says:

    @crh: Da haben Sie die Unschuldsvermutung meiner Meinung nach (bewusst oder unbewusst) missverstanden. Die sagt nämlich nichts darüber aus, ob das Gericht bestimmten Zeugen glauben oder nicht glauben soll. Und erst recht sagt die Unschuldsvermutung nichts darüber aus, wie schutzwürdig oder -unwürdig ein Zeuge ist.

    Wenn tatsächlich ein Gericht auf die Idee käme, in diesem Zusammenhang die Unschuldsvermutung in irgendeiner Form anzuwenden, müsste es konsequenterweise Belastungszeugen anders behandeln als Entlastungszeugen. Schon allein daran erkennt man, dass dieser Denkansatz in eine Sackgasse führt.

  8. 8
    Mondschein says:

    @ crh
    Und nun raten Sie mal, weshalb viele Frauen, wenn sie Opfer eines sexuellen Missbrauchs werden, dies dann doch gar nicht zur Anzeige bringen.
    Unter anderem auch deswegen, weil es für sie eine Horrovorstellung ist, dies in einer Gerichtsverhandlung öffentlich zu schildern und die Gegenwart des Peinigers ertragen zu müssen. Wenn das für Erwachsene Frauen schon eine enorme seelische Belastung darstellt, dann ist es wohl um so verständlicher, dass man einem minderjährigen Mädchen solch dine unmittelbare Konfrontation mit dem Täter und auch noch dessen „Verbündeten“, (Anwälten) in einem Gerichtssaal nicht zumutet. Und manche Verteidiger setzen es ja gerade darauf an, Zeugen in der Verhandlung möglichst „fertig zu machen“ und möglichst als unglaubwürdig darzustellen. (Zu „Grillen“, wie Sie es hier gerne mal nennen)

  9. 9
    Fry says:

    @die anderen Kommentatoren hier:

    In einem Strafverfahren kann niemand gewinnen und nur einer verlieren: der Angeklagte.

    Wer meint, man solle für mutmaßliche Opfer, die auch evtl. Falschbeschuldiger sein könnten (Unschuldsvermutung im Strafverfahren), einen „Schongang“ einlegen, damit „mehr Straftaten zur Anzeige gelangen“, der verkennt, dass er damit auch mehr Unschuldige vor den Kadi bringen wird. Und eine entsprechende Auzeige aus dem Sexualdeliktvorwurf ist bekanntlich geeignet, das Leben eines Beschuldigten zu zerstören, egal wie das Gerichtsverfahren ausgeht.

    Nun soll es ja Leute geben, die sagen „die paar unschuldig Verurteilten sind es wert, Hauptsache es läuft kein Straftäter mehr frei herum“. Diese Leute haben nichts, aber auch GAR NICHTS verstanden.

    Ach übrigens, auch Kindesmund tut nicht nur Wahrheit kund, das hat die Justizgeschichte auch längst erwiesen.

    TL;DR: Wenn Sie meinen, es sei einer Zeugin nicht zuzumuten, in einem Gerichtssaal aufzutreten, dann bedenken Sie worum es im Gerichtssaal geht – um Existenzen, nicht um Höflichkeiten. Und die Zeugin dürfte ja nun in den seltensten Fällen aus Zucker gebaut sein.

  10. 10
    Kater Karlo says:

    Wo ist das Problem, wenn der Richter den Stumm-/Notfall-Knopf ordentlich bedient, wenn es Kritik an möglicherweise unzulässigen Fragen gibt?

    So sehr wichtig Angeklagtenrechte sind, so sehr wissen wir, dass es für junge Zeuge eine extreme Belastung sein kann.
    Junge Zeugen können ja dennoch mit (adäquaten) Fragen „in die Mangel“ genommen werden, wobei der Richter das letzte Wort hat.

  11. 11
    HugoHabicht says:

    In derartigen Prozessen tragen -wenn kein Geständnis vorliegt- am Ende des Tages doch meistens irgendwelche Glaubwürdigkeitsgutachter entscheidend zum Ergebnis bei. Wobei deren Kunst sicher auch eine höchst fragwürdige ist, so dass aber die hier geschilderten Unbill nicht letztentscheidend sein dürften.

  12. 12
    Dante says:

    Die Brisanz der Situation ist mir klar. Als Gesetzgeber und als vorsitzender Richter muss man die Rechte aller Beteiligten berücksichtigen. Man kann das Verfahren nicht so ausgestalten, dass eine minderjährige Zeugin – egal ob Opfer oder Lügnerin – in jedem Fall mit einem schweren psychischen Schaden aus der Verhandlung geht. Andererseits muss man natürlich die Rechte des Angeklagten wahren. Da muss ein Mittelweg gefunden werden.

    Natürlich wäre es schön, wenn man sich darauf verlassen könnte, dass alle Verteidiger ergebnisoffen, adäquat und mit angemessen Umgangsformen in die Beweisaufnahme gehen. Das entspricht nicht meiner Erfahrung.

    Wie hoch schätzen sie selber die Wahrscheinlichkeit dafür ein, bei 13 Verteidigern?

    Das Verfahren muss (eigentlich) auch darauf abgestellt sein, das (Fehl-)Verhalten von Verteidigern wie diesem hier abzufangen:

    https://www.news38.de/braunschweig/article209641729/Gericht.html

    Erst recht bei einer Minderjährigen.

  13. 13

    […] für eine audio-visuelle Zeugenvernehmung der einzige (!) High-Tech-Saal des Moabiter Kriminalgerichts nicht zur Verfügung steht, weiß sich die Berliner Strafjustiz zu […]