Der Widerruf zum Absaufen

Der Betreuer unseres Mandanten schickt uns den Beschluß eines Amtsgerichts. Der Richter hat die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen.

Zur Vorgeschichte:
Der Mandant ist psychisch erkrankt, es gibt eine multiple Substanzabhängigkeit, er wird entsprechend behandelt und steht unter Betreuung. Mehrere Bemühungen, ihm eine Tagesstruktur zu verschaffen, scheiterten; auch in einer Werkstatt für Behinderte gelang es ihm nicht, länger als ein paar Tage zu arbeiten. Er ist „willig“, aber überfordert.

Immer wieder ist es in der Vergangenheit zu kleinkriminellen Straftaten gekommen, ein tatsächlicher Schaden ist an keiner Stelle entstanden. In diesem Fall war er zur falschen Zeit am falschen Ort, wo er sich zu einem Schubser hat hinreißen lassen. Passiert ist de facto nichts, de jure war es eben eine heftig klingende Straftat.

In der Hauptsache wurde er verteidigt. Während der Bewährungszeit hatte er keinen Verteidiger. Auch in dem gerichtlichen Verfahren, in dem über den Antrag der Staatsanwaltschaft entschieden wurde, die Strafaussetzung zur Bewährung zu widerrufen, war er nicht verteidigt. Das ist – nach herrschender Ansicht der Amtsrichter – kein Fall der notwendigen Verteidigung. Auch dann nicht, wenn ein Verurteilter nicht Herr seiner Sinne ist.

Also entscheidet der Richter am Amtsgericht:

Wenn dieser Beschluß rechtskräftig wird, schickt man einen kranken Menschen, der aufgrund dieser Erkrankung unfähig (nicht: unwillig!) ist, sich an Spielregeln zu halten und Auflagen zu erfüllen, auch nicht mit einer engagierten Unterstützung eines professionellen Betreuers, für 12 Monate in den Knast.

Was erwarten der Staatsanwalt und der Richter eigentlich, wie es danach weiter gehen soll? Ist diese Art mit instabilen Menschen umzugehen nicht ein Eingeständnis völliger Hilflosigkeit? Oder sind Richter und Staatsanwalt kalte Technokraten, die „an Recht und Gesetz gebunden“ sind und sich quasi in einem „Befehlsnotstand“ befinden, mit dem sie rechtfertigen, einen Menschen, der bis zum Hals im Dreck steckt, noch ein Stück weiter nach unten zu drücken?

Es ist nunmehr die Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Verurteilten unbedingt erforderlich.

Erforderlich wofür? Damit er in dem Dreck umkommt?

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Bild: © Rudolpho Duba / pixelio.de

Dieser Beitrag wurde unter Justiz, Knast, Mandanten, Richter, Staatsanwaltschaft veröffentlicht.

14 Antworten auf Der Widerruf zum Absaufen

  1. 1
    jemand says:

    Hat man denn zu diesem Zeitpunkt noch Möglichkeiten, am Ergebnis zu rütteln, oder „war’s das“ quasi?

    Wie sieht es aus, wenn der Betroffene dann einsitzt?

  2. 2
    Ellen says:

    Bei einem beabsichtigten Widerruf wegen Verstoßes gegen Auflagen/Weisungen soll dem Verurteilten Gelegenheit zur mündlichen Anhörung gegeben werden. Das aus gutem Grund. Aus dem Beschluss ergibt sich nicht, ob das gemacht wurde. Falls er noch nicht rechtskräftig ist, könnte eine Beschwerde zumindest vorläufig erfolgreich sein.

  3. 3
    Neuling says:

    Wenn ich einen Vorschlag machen dürfe: multiple, nicht multibel.

    • Merci! crh
  4. 4
    Spaßmacher says:

    Richtig so.

    Wenn Sie sich mal solche Gedanken um die Opfer von Staftaten machen würden; aber nunja, dass ist eben ihr Berufskorsett.

    Krank oder nicht krank, letztlich muss die Gesellschaft vor dem Herrn geschützt werden.

  5. 5
    kristall says:

    Ich versteh leider auch noch nicht so ganz, warum „Überforderung“ vor Strafe schützen sollte. Wenn er für einen Schubser ein Jahr bekommen hat, dann scheint das ganze ja nicht so harmlos gewesen zu sein.

    Und ich glaube man sollte eher froh sein, das Richter und StA nicht auf eine Unterbringung nach §§ 63, 64 drängen um sich des Problems zu „entledigen“ und ihrer „Hilfslosigkeit“ zu entkommen. Sie sind schliesslich keine Sozialarbeiter oder Ärzte…

    Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich wünsche mir auch eine andere Behandlung solcher Fälle, aber dazu müsstne sich Dinge ändern, zB das die Union einsieht das man Drogenprobleme nicht mit dem Strafrecht bekämpfen sollte.

    Und für „Gnade“ sind weder Richter noch StA zuständig, sondern da hilft wenn dann nur ein Brief an die Nase in Bellevue und ich glaube auch der hält Repression für nötig auch wenn sie letztlich nichts bringt. Sonst würde er wohl nicht ins Schloß gewählt …

  6. 6
    HD says:

    Wahrscheinlich ist er auch nicht zur mündlichen Anhörung gegangen? § 35 BtMG hilft wahrscheinlich auch nicht weiter, weil er die Therapie nicht durchhalten kann? Was soll die Gesellschaft mit Leuten machen, die unfähig sind, sich an Regeln zu halten? Einfach machen lassen?

  7. 7
    Scher Stefan says:

    Der Beschreibung nach geht so jemand im Bau unter und versumpft draußen dann noch mehr, sollten den Richter davon überzeugen das quasi nur ein Halboffener Vollzug in einer sozialtherapeutischen Abteilung einer kleinen JVA halbwegs sinnvoll erscheint wo er zum Beispiel als erzieherische Maßnahme gegen Leistung der vorherigen Arbeitsstunden Straferlass bekäme. In der Regel wird ja auch die Betreuung für die Zeit der Haft ausgesetzt, bedenklich bei dieser Charakterumschreibung, der Herr Richter sollte auch bedenken das in einer JVA mehr gedealt wird als draußen und solche labilen Menschen gerne dazu ausgenutzt werden.

  8. 8
    Non Nomen says:

    Da scheint Iustitia wohl auf einen fernen Stern ausgewandert zu sein. Es wird niemandem helfen, 12 Monate zwangsstrukturiert zu werden, denkbar ist eher das weitere Abdriften in den Nebel des psychischen Grauens. Und es wird ordentlich Kosten produzieren, besonders wenn sich die Defizite dann weiter verfestigen Juristisch vielleicht zu halten, aber menschlich daneben, ökonomisch daneben.

  9. 9
    Engywuck says:

    ernstgemeinte Frage: wie groß ist denn der Ermessensspielraum der Richter in so einem Fall?
    Jemand wird auf Bewährung verurteilt, reagiert auf keine Anfrage, ignoriert die Auflagen – was außer „Bewährung widerrufen“ ist da überhaupt rechtlich möglich?
    „Der hält sich an keine Bewährungsauflage, ALSO ist er lebensunfähig (jedenfalls im Alltag), ALSO braucht man ihn gar nicht erst zu Bewährung zu verurteilen sondern er ist wegen Dummheit freizusprechen oder gar nicht erst anzuklagen (die Strafe bringt ihm ja eh nix) kann ja wohl kein Automatismus sein (selbst wenn möglich). Ein ausgebildeter Psychologe oder gar Psychiater ist ein Richter auch selten. Gut, in diesem Fall gab es einen Betreuer – aber hat der Richter das gewusst beim Widerruf? – und nur weil jemand betreut wird heißt das ja nicht, dass er die Bewährungsauflagen automatisch nicht erfüllen kann (dann wäre die Erteilung einer Strafe auf Bewährung für solche Menschen ja sinnlos und damit nicht als Option beim Strafmaß verfügbar).
    Wo würde hier Willkür beginnen? Irgendwo muss in einem solchen „ignortiert alles“-Fall ja die Begründung herkommen, ihn nicht wie einen „normalen“ Menschen zu behandeln – und es darf ja auch nicht der Eindruck entstehen, wenn man dem Richter nur vorspielt, nichts auf die Reihe zu bekommen, komme man mit allem durch…

    Wenn, dann hat hier die Vorinstanz (inkl. Verteidiger) versagt (die gleich eine ganz andere Art der Intensivbetreuung hätten anordnen müssen (evtl. gar psychiatrisch?) – und auch wenn der Betreuer anscheinend engagiert war, so hat er es nicht geschafft, dass der Betreute wenigstens den Anschein des Erfüllens der Bewährungsauflagen erbrachte (bzw. nicht mitbekommen, dass es eine entsprechende Verhandlung gab?).
    (versagen heißt hier nicht, dass sie unwillig oder unfähig gewesen wären – man kann auch mit vollem Engagement und bestem Willen versagen)

    Manchmal ist halt auch von Nacheil, dass Justitia blind ist.

  10. 10
    Engywuck says:

    in Ergänzung: ich glaube auch nicht, dass hier „Knast“ die krrekte Strafe ist – aber was wäre stattdessen *für die Gesellschaft* das richtige? Betreuung hat ja offensichtlich nicht geholfen – aber ob zwangsweise Einweisung in die Psychiatrie wi von kristall angemerkt das richtige wäre??? „Einfach leben lassen“ ist bei jemandem, der eine Körperverletzung begeht („nur ein Schubser“ würde wohl hoffentlich nicht verurteilt) halt auch schwierig…

  11. 11
    Flo says:

    @kristall #5, so ganz harmlos scheint das in der Tat nicht gewesen zu sein.
    Laut Beschluss war der Schubser nämlich Beihilfe zum Raub in Tateinheit mit Beihilfe zur vorsätzlichen Körperverletzung.

  12. 12
    WPR_bei_WBS says:

    @ kristall

    Nein, die Nase in Bellevue waere dafuer nicht zustaendig. Es waere die Nase im Roten Rathaus.

  13. 13
    Der wahre T1000 says:

    Aus dem Bauch heraus mag man einem solchen Menschen helfen wollen.

    Auf der anderen Seite sind die „Technokraten“ und deren Durchsetzung von Beschlüssen notwendig.

    Mal ehrlich, was erwarten Sie denn? Dass ein Urteil nicht vollsteckt wird, weil der Mandant das gerade nicht gebrauchen kann? Er bekam Bewährung, was schonmal gut und freundlich war. Dazu ein paar Auflagen. Die hat er (auch mit Nachfrist) nicht erfüllt. Es war doch klar, dass dann der Bewährungsiderruf kommt.

    Sollte er wirklich Haftunfähig sein, kann ihm das ja ein (Amts-) Arzt bescheinigen.

    Wenn ich meine Steuern trotz Erinnerung nicht zahle, dann kommt die Kontopfändung, auch wenn ich das so gar nicht gebrauchen kann und es mich in Nöte stürzt. Ist die Pfändung fruchtlos, kommt die Keule der Steuerhinterziehung nahezu sicher hinterher.

    Würden Urteile nicht vollstreckt, dann könnten wir uns die Justiz – Sie eingeschlossen – gleich ganz einsparen. Dass die Vollstreckung von Urteilen für den Betroffenen außerordentlich unschön ist, ist unbestritten. Aber da muß er nun durch. Vielleicht hilft es ihm weniger multiple Substanzen zu nehmen, wenn der Zugang dazu reduziert wird.

    Bitte nicht falsch verstehen, er hat mein Mitleid. Ich habe allerdings auch mit meinen Kindern Mitleid, wenn sie Stubenarrest bekommen. Dennoch ist es manchmal nötig.

  14. 14
    LaGirod says:

    Die Aufgabe des rechtlichen Betreuers kann bei passendem Aufgabenkreis sein mit dem Bewehrungshelfer derart zu kooperieren, dass die gemeinnützige Arbeit wegen Krankheit ausgesetzt wird. Das ist ein ganz normaler Vorgang, der zudem nur wenig Kooperationsfähigkeit beim Mandanten vorraussetzt.
    Eventuell ist der Betreuer nicht geeignet diese Betreuung zu führen.