Nachdem das Urteil in dem NSU-Verfahren ergangen ist, müssen die Karten im Haftverfahren neu gemischt werden.
Der Haftbefehl gegen den Angeklagten Ralf Wohlleben hatte anfangs die vornehme Aufgabe, das Verfahren vor dem OLG München zu sichern. Mit Urteilsverkündung ist dieser Job erst einmal entfallen.
Der Haftgrund lautete (u.a.?) auf Fluchtgefahr, § 112 Abs.2 Ziff. 2 StPO. Die Staatsanwaltschaft und das Gericht unterstellten dem Angeklagten, allein die zu erwartende Freiheitsstrafe bietet einen großen Fluchtanreiz, dem man nur mit einer Inhaftierung entgegen wirken kann.
Nun wird die Freiheitsstrafe nicht mehr erwartet, sondern sie wurde konkret ausgeurteilt: Exakt 10 Jahre sollen es sein, die Wohlleben insgesamt zu verbüßen hat. Nota bene: Aber nur dann, wenn das Urteil rechtskräftig werden sollte.
Die Uhr fängt aber nicht erst mit Urteilsverkündung an zu laufen, sondern bereits mit der Inhaftierung. Sechs Jahre und acht Monate hat Wohlleben schon in der Untersuchungshaft gesessen. Diese 80 Monate werden auf die 120 Monate angerechnet. Brutto bleiben also noch 40 Monate, die Wohlleben bei Rechtskraft in der Vollstreckungshaft absitzen müßte.
Rechtsanwalt Olaf Klemke, einer der Verteidiger von Wohlleben, hat vor diesem Hintergrund die Aufhebung, hilfsweise die Außervollzugsetzung des Haftbefehls beantragt. Diesem Antrag hat das Gericht mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft stattgegeben:
Die verbleibende Straferwartung ist daher im konkreten Fall nicht mehr so hoch, um einen erhöhten Fluchtanreiz zu begründen.
… teilte das OLG München mit.
Ich vermute, daß Rechtsanwalt Klemke folgende Berechnung in seiner Antragsschrift vorgetragen hat:
- 120 Monate Freiheitsstrafe
- 60 Monate Halbstrafe
9080 Monate Zweidrittelstrafe
Ein Verurteilter kann – bei Vorliegen der Voraussetzungen – vorzeitig aus der Haft entlassen werden: „Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung“ ist der terminus technicus für dieses Institut, das der Gesetzgeber in den § 57 StGB gegossen hat.
Die Halbstrafe (§ 57 II StGB) bei einem Neonazi, der sich nicht aus seinem Umfeld gelöst hat, ist auch in Bayern eher die Ausnahme. Und Wohlleben ist ja kein Fußballfunktionär.
Nicht ausgeschlossen ist allerdings der Zweidrittelzeitpunkt, selbst bei so einem Kaliber wie Wohlleben.
Das bedeutet, der Mandant von Klemke hätte bei Rechtskraft noch einen Zeitraum vor sich, der irgendwo zwischen 10 Null (netto) und 40 Monaten (brutto) liegt. Mit diesen Zahlen hat das Gericht abgewogen und ist zu dem Schluß gekommen, das Fluchtrisiko ist nicht mehr so hoch alswie zuvor. Das Recht Wohllebens auf Freiheit (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art 2 Abs. 1 u. 2 GG, verknüpft mit der Unschuldsvermutung des Art. 6 EMRK) überwiegt.
Das werden die Gründe sein, die heute zur Entlassung Wohllebens aus der Untersuchungshaft geführt haben.
Allerdings: Bis zur Rechtskraft des Urteils werden noch viele Monde vergehen. Erst muß das Urteil geschrieben und zugestellt werden (dafür hätte das Gericht gute zwei Jahre Zeit). Danach beginnt der Austausch von Schriftsätzen zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft. Weitere Monate (Jahre?) später wird der Bundesgerichtshof über die Revision Wohllebens entscheiden. Wie dieses Entscheidung aussehen wird, ist offen. Und bis dahin – ich rechne mit zwei bis drei, vielleicht gar vier Jahren – muß Wohlleben damit rechnen, wieder in den Knast zu müssen – zur Verbüßung einer noch unbestimmten Reststrafe.
Ich bin mir nicht sicher, ob ihm das guttut. Vielleicht wäre es besser gewesen, an den (Untersuchungs-)Haftverhältnissen nichts zu verändern und die Zeit bis zur Entscheidung des BGH in gewohnter Umgebung abzusitzen, um nach (vollständiger) Verbüßung der Freiheitsstrafe in der U-Haft endgültig entlassen zu werden.
Aber das wird Rechtsanwalt Klemke, so wie ich ihn kenne, mit Wohlleben sicherlich besprochen haben.
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Bild: © Denise / pixelio.de
Hallo Herr Kollege,
als Zivilist habe ich ja keine Ahnung von der Materie. Aber: Bei der Revision kann es für Wohlleben doch nur besser werden oder gleich bleiben, da die StA keine Revision eingelegt hat (?). Bedeutet aber doch, dass es eine Chance für ihn gibt, dass er 2/3 oder gar mehr der endgültigen Strafe schon verbüßt hat.
Was wäre denn die strategische Überlegung aus Verteidigersicht, ihn bei einer solchen Konstellation in Haft zu belassen?
Die Haftverhältnisse spielen übrigens auch eine Rolle im Zusammenhang mit der Frage, ob die Revision durchgezogen werden oder ggf. nicht eingelegt bzw. zurück genommen werden soll. crh
Kennen Sie Mandanten, die das machen würden – quasi freiwillig weiter in U-Haft bleiben? Dazu ist doch der Freiheitsdrang eines jeden Menschen zu groß, gerade nach über sechs Jahren U-Haft.
Entschuldigen Sie mein klugscheißen, aber 90 von 120 sind 3/4 und nicht 2/3 …
Unabhängig ob er tatsächlich in den Genuss der 2/3Strafe kommt ( kommen sollte ), hat er doch schon 2/3 abgesessen. 120:3=40 40*2=80…..manchmal stimmt’s eben doch Index non calculat?
Index non calculat?
Vertipper des Jahres. Und das auch noch im Klugschei*posting.
on topic: Wohlleben muss seinen Laden in Ordnung bringen. Die seinen halten ihm die Stange („Freiheit für Wolle“), aber wer weiß, wie lange?
Dagegen ist die Aussicht, später evtl. nochmal etwas abbrummen zu müssen, zu vernachlässigen. Zumal immer noch die Möglichkeit besteht, irgendwann, irgendwo (evtl. vor dem EMRK-Gerichtshof) Kompensation wegen überlanger Verfahrensdauer zu erhalten, wenn sich das weitere Verfahren nochmal drei, vier Jährchen hinzieht.
Bitte gestatten Sie die laienhafte Frage: Wie klar zu lesen ist, kann es sein, dass da nach vielen Monden noch ein etwas längerer JVA-Aufenthalt abzuleisten ist. Kann es nicht sein, dass man diesen aus Rechtsgründen erlassen muss, weil es ja nicht in der Hand des Verurteilten liegt dass das so lange dauert? Unterstellen wir einfach dazu mal eine positive Prognose oder ist das irrelevant (von bajuwarischem Recht mal ganz abgesehen) ?
Was macht jetzt wohl der „kleine Adolf“?
„Adolf“ ist / war der Verfassungsschuetzer, der zum falschen Zeitpunkt in einem gewissen Internetcaf’e in Kassel präsent war und schwerhoerig ist…. der Spitzname stammt von seinen Kollegen.
Vollkommen richtige Entscheidung des Senats den HB aufzuheben. Und aus Verteidigersicht kann man dem Mandanten nicht ernsthaft raten weitere vier Jahre einzusitzen und die Entscheidung des BGH abzuwarten-zumal ja gute Gründe für eine Aufhebung bestehen (2/3-Strafe).
Wenn in den nächsten Jahren bis zur Entscheidung nix weiter strafrechtlich passiert liegt die 2/3-Lösung doch auf der Hand.
Überrascht bin ich, dass ich keine Spitze gegen Herrn Klemke finden konnte. Die hätte ich von Ihnen erwartet.
Oder habe ich diese überlesen?
Außer der Hauptangeklagten sind bei genauerem Hinsehen alle verhängten Haftstrafen mit der U-Haft faktisch nahezu abgegolten, sofern keine gravierenden Vorstrafen entgegenstehen. Das hinterläßt bei mir den schalten Nachgeschmack das Gericht habe sich nicht von Tatsachen & Gesetz sondern vielmehr vom Pragmatismus leiten lassen.
Auch hier ist wieder mal der Prozeß die Strafe. Justitieller Pragmatismus? Sehe ich sehr ähnlich. Obwohl bei DER Prozeßdauer noch von Pragmatismus zu sprechen ist schon geschärfter Sarkasmus.
Gilt die U-Haft im allgemeinen nicht als härter im Vergleich mit der Straftat? Dazu das Risiko, ab jetzt quasi freiwillig mehr Zeit abzusetzen als nötig. Und selbst mag ein längerer „Hafturlaub“ bestimmt nicht schaden (allein wenn es um eine etwaige Partnerin geht, waere ich zumindest lieber 80 + 40 Monate von ihr getrenn (mit zwei, drei Jahren Zweisamkeit dazwischen) als 120 Monate am Stück.
Von daher kann ich ihn (aus der Ferne) schon verstehen.
Ich wundere mich, wie ernsthaft das im Gefängnis bleiben wollen zu können hier diskutiert wird. Geschichten, wo diese Option wirklich sinnvoll genutzt wurde, würde mich hier interessieren.
Bestünde bei einem Verbleiben in Haft bei der Revision nicht die „Gefahr“, dass die Richter die schon verbüßte Strafe als untere Grenze nehmen. Falls Richter so ticken.
Während hier über die (vermeintliche?) Wahlmöglichkeit von Wohlleben diskutiert wird, stelle ich mir die – theoretische – Frage, ob die Bundesanwaltschaft nicht selbst Aufhebung des Haftbefehls hätte beantragen müssen. Offenbar hat die Behörde der Aufhebung des Haftbefehls ja zugestimmt. Wenn die Haftgründe so eindeutig entfallen sind, müsste die objektivste von allen objektiven Behörden auf der Welt das ja auch selbst merken.
Und bei der Bundesanwaltschaft gibt es durchaus Vertreter, denen ein solcher Gedankengang auch zuzutrauen ist.
Wenn wir mal die vier Jahre, die crh erwähnt annehmen, heisst das ja noch nicht mal, dass er bis dahin durch ist. Selbst bei einer erfolgreichen Revision heisst es dann womöglich „zurück auf Anfang“, sprich noch mal von vorne am OLG…
1. Bei erreichen des rechnerischen Zweidrittel-Zeitpunktes hätte der HB m.E. schon ohne Antrag von Amts wegen aufgehoben werden müssen.
2. Unabhängig von diesem Fall wollen „Profis“ oft länger in Untersuchungshaft sitzen, weil wegen der Unschuldsvermutung z.B. die Einkaufsmöglichkeiten besser sind.
3. Andere „Profis“ wollen alles absitzen, damit sie keine Bewährung mehr im Nacken haben.
Wer sich mal etwas intensiver mit diesem Prozess befasst hätte, hätte mitbekommen, dass RA Klemke bereits während des Verfahrens gefordert hatte, den (u)-Haftbefehl gegen seinen Mndanten R.W. aufzuheben. Und er hatte unter anderem deutlich kritisiert, dass R. Wohlleben monatelang oder gar jahrelang in Einzelhaft sass und aufgrund der Haft schon anfing zu stottern u.ä.
Unter diesen Umständen ernsthaft zu glauben, der Mandant würde gerne freiwillig weiter in U-Haft sitzen ist ja wohl völlig absurd.
kann man auch anders sehen:
Mit der Aufhebung des Haftbefehls hat er jetzt ein positives Präjudiz in der Akte.
In Freiheit kann er zeigen, dass eine günstige Sozialprognose gegeben ist und von ihm keine Gefahr für die Allgemeinheit mehr ausgeht. Wenn er diese Chance nicht nutzt, gehört er sowieso wieder weg gesperrt.
Risiko: Der BGH hebt das Urteil auf und am Ende kommt eine höhere Freiheitsstrafe heraus. Dann muss er höchstwahrscheinlich in Vollstreckungshaft. Ob dieser Unterschied es rechtfertigt, bereits heute die U-Haft vorwegzunehmen? Mein Rat an Wohlleben wäre, nimm das Angebot der StA an und verhalte dich anständig.
Noch ein Gedanke auf die Schnelle: Hier geht es ja um die Aufhebung des Haftbefehls auf Antrag der Bundesanwaltschaft. Da ist die Zustimmung des Angeklagten, wenn ich das richtig sehe, nicht erforderlich. Wie soll das dann verfahrenstechnisch gehen, dass W. dennoch in U-Haft bleibt?
@ Michael Krause
Ein „Lieber Herr Goetz, ich moechte mich dem Antrag des GBA anschliessen und bedanke mich schon jetzt recht herzlich fuer die mir gegebene Moeglichkeit. Fuer den Fall, dass wir uns nich mehr sehen, moechte ich Ihnen alles gute beim BayObLG wuenschen. Ich schicke dann jetzt meiner Frau schon einmal die Packliste, um unverzueglich nach Entlassung unserem langegehegten Traum auf ein Leben und noch ein paar Kinder in unserem bereits gekauften Haus in Brasilien nachzugehen.“
So in etwa :-D
@wpr
Geniale Vorgehensweise. Dann bleibt er bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens in U-Haft und das kann u.U. Jahre dauern.