Tanzbären beim Amtsgericht Gießen

Ein Eckpfeiler des Jugendstrafrechts ist der Beschleunigungsgrundsatz. Es geht um den Erziehungseffekt, den ein Strafverfahren auf den Jugendlichen oder Heranwachsenden haben soll. Populistisch ausgedrückt heißt es: „Die Strafe soll auf dem Fuße folgen.“ Ein guter Gedanke.

Soweit die Theorie.
Nun zur Praxis des Jugendstrafgerichts beim Amtsgericht Gießen, ein Gericht, das mit dem Gütesiegel „Familienfreundlicher Arbeitgeber Land Hessen“ ausgezeichnet worden ist. Meinen Glückwunsch!

Der Fall
In der Nacht vom 30. auf den 31.03.2016 schlenderten zwei Jungs, jeweils einen Döner essend, durch die örtliche Fußgängerzone. Im Vorübergehen pöbelten die vier Angeklagten die Jungs an, die jedoch weiter kauten und gingen.

Einer der vier Angeklagten sprang einem der beiden Jungs in den Rücken, der fiel auf die Knie, die sich bis heute noch in einem derangierten „Zustand nach Patellafraktur“ befinden.

Die anderen drei Angeklagten machten sich über den zweiten Jungen her, schlugen ihm erst von hinten gegen den Kopf, dann auf den Boden und prügelten dort dann weiter auf ihn ein. Hier gab es „nur“ bleibende psychische Folgeschäden.

Soweit die Behauptungen aus der Anklageschrift vom 7.10.2016. Die Aussagen der beiden Jungs bestätigen den Vortrag der Staatsanwaltschaft. Die Angeklagten haben sich nicht bzw. besteitend zu den Taten eingelassen.

Das Verfahren
Sieben Monate für eine Anklage in so einer überschaubaren Sache ist ja schonmal eine ordentliche Hausnummer. Ich würde mich schämen dafür. Aber es geht ja weiter.

Am 9.11.2017, also 11 Monate nach Anklageverfassung und 20 Monate Monate nach dem Tattag, bittet mich das Gericht um „umgehende Mitteilung„, ob mir der Hauptverhandlungstermin am 05.03.2018 passen würde. Dieser Termin paßte und wurde danach noch zweimal aufgehoben, der letzte war der 22.10.2018.

In der vergangene Woche erhielt ich vor der Abteilung Jugendsstrafsachen des familienfreundlichen Amtsgerichts Gießen diese wahnsinnig dringende Anfrage:

Die Ursache(n)
Es gibt Ressourcenknappheit bei der Justiz, Richter und Säle sind nicht im ausreichenden Maß vorhanden, um den Bearbeitungsaufwand zu bewältigen; das ist bekannt und zu mißbilligen. Wenn sich aber eine Richterin wie ein Tanzbär am Nasenring durch die Manege führen läßt, sind Zweifel am Organisationstalent und damit an der Geignetheit zum Führen des Richteramts angebracht.

Als Grund für die Terminsaufhebung vom 22.10.2018 gab die Richterin am 12.10.2018 bekannt, daß …

… der Verteidiger des Angeklagten N* am 09.10.2018 mitgeteilt hat, dass sich der Angeklagte N* am Terminstag auf einer seit März 2018 gebuchten Urlaubsreise befindet.

Der Termin am 22.10.2018 stand seit Mai 2018 fest.

Ich freue mich auf die Zirkusvorstellung im Frühjahr 2019, drei Jahre nach der angeklagten Prügelei.

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Bild (CC0): Free-Photos / via Pixabay

Dieser Beitrag wurde unter Gericht, Richter veröffentlicht.

12 Antworten auf Tanzbären beim Amtsgericht Gießen

  1. 1
    Fry says:

    Und wieder sechs weitere junge Leute (auf beiden Seiten dieses Ereignisses), die sicher jeden Glauben an die Effektivität unsere Justiz verloren haben.

    Willkommen im Club.

    Aber es ist wichtig, dass Urteile des BGH in der Regel einstimmig erfolgen. Alles andere würde den Ruf der Justiz gefährden. Und die Erledigungsrate. Wobei letzteres wichtiger ist.

    Wen kümmern schon korrekte Urteile? Viel wichtiger ist doch „revisionsfest“.

  2. 2
    Andreas says:

    IANAL – was genau hätte die Richterin denn tun können/sollen? In Abwesenheit verhandeln?

  3. 3
    matthiasausk says:

    Wenn die Tat in der Nacht vom 30. auf 31.3. geschah, dann ist doch der 1.April ein guter Termin …

  4. 4
    Non Nomen says:

    @ Andreas
    Reise von Amts wegen absagen, bei Freispruch Kostenersatz durch Staatskasse, bei Verurteilung zahlt er die Kosten ohnehin. Ich glaube(!), dass das nicht soo teuer werden kann. Erstens ist die Stronofrist noch recht gnädig, zweitens wird er sich 4 Wochen Dubai ohnehin nicht leisten können.

  5. 5
    Non Nomen says:

    @ Andreas
    Ich vergaß § 651i BGB. Und bei so zeitigem Rücktritt vor Reisebeginn sollte die Chose eher nix bis vielleicht 25% kosten.

  6. 6
    quicker-easier says:

    @Andreas u @Non Nomen :
    Sie hätte dem Verteidiger sinngemäß mitteilen können, dass die Absage 5 Monate zu spät kommt und daher nicht (mehr) berücksichtigt wird. Den Verhandlungstermin dementsprechend stattfinden lassen, wenn der Urlauber kommt, ist gut, wenn er (mit Ansage) wegbleibt, ergeht Haftbefehl. Und Kostenersatz für die Urlaubsreise gibt’s nicht – egal, ob er verurteilt wird oder freigesprochen.

  7. 7
    WPR_bei_WBS says:

    Ich haette jetzt gedacht, dass es für sodas Fristen gibt, bei deren Überschreiten der Urlaubende dann Pech gehabt hätte.

    Gut, Ander Möglichkeit ist natürlich, dass die Urlaubsankündigung zeitnah einging, die Richterin aber erst jetzt einen Blick da reingezogen hat.

  8. 8
    Bernd says:

    Lassen sie mich raten, […]

    • Ihren Rassismus können Sie sich dorthin stecken, wo die Sonne nicht hinscheint. Ich habe Ihren Abwasserrohbruch gelöscht.
       
      *PLONK* crh
  9. 9

    Ein vor vielen Jahren geführtes Verfahren vor dem AG Wiesbaden, in dem es darum ging, dass drei jugendliche männliche Angeklagte ein Mädchen auf die Tischplatte gedrückt und ihre Finger an und in Stellen hatten, wo sie nicht hingehörten, endete nach mehr als 1 1/2 Jahren seit der Tat mit

    – einer bitterlich weinenden Hauptbelastungszeugin, die das Geschehene vor der Hauptverhandlung eigentlich halbwegs hinter sich gelassen hatten,

    – einem Sitzungsvertreter der StA, der diesen Termin „über Schweinkram“ so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte,

    – und drei Angeklagten, die in der Zwischenzeit ihr Leben wieder im Griff und Ausbildungen begonnen oder Arbeitsplätze angetreten hatten. Sie kamen sehr milde mit Arbeits- oder Geldauflagen davon.

    Ich saß damals als Referendar neben dem Sitzungsvertreter der StA.

    Bin heute noch zwiegespalten über das Verfahren und sein Ergebnis. Das Tatopfer war am Ende diejenige, die am schlechtesten aus der Sache herausgekommen ist. Andererseits hat die lange Verfahrensdauer hier möglicherweise dazu beigetragen, dass die drei Täter genug Zeit hatten, ihr Leben in den Griff zu kriegen und ihnen kriminelle Karrieren erspart blieben. Ob das im Fall eines früheren und sehr sicher härteren Ausgang des Verfahrens geklappt hätte, bezweifle ich.

    Ach ja: ein Verteidiger der Angeklagten bot – als das Ergebnispaket eigentlich schon zusammengeschnürt war – ein Video der Tat an, das bis dahin keiner kannte. Was auch immer ihn ritt – ich weiß es nicht. Das Gericht lehnte das Angebot ab. Nochmal Glück für die Angeklagten.

  10. 10
    Der wahre T1000 says:

    Dass junge Männer, die über andere gewalttätig herfallen, feixend davon kommen, ist in meinen Augen ein Justizskandal. Ersichtlich wird es so kommen. Lange Verfahrensdauer, (angeblich) geordnete Verhältnisse usw. Am Ende keine Strafe, oder eine, welche eher „falsch parken“ nahekommt. Ein paar Euros und das wars.

    Zum kotzen.

  11. 11
    Willi says:

    Wem kann und soll man hier einen Vorwurf machen? Ich schätze mal das wird hier nicht so gern gehört, aber das ganze schreit doch wirklich nach Verzögerungstaktik durch den Verteidiger und/oder den Angeklagten. Und andernorts wird doch nur zu gern gesagt, dass je länger sich das Verfahren hin zieht es um so besser für die Angeklagten mit Blick auf das Strafmaß ist.
    Also auf Seite der Angeklagten doch eigentlich nur Gewinner…

  12. 12

    Carsten, der Termin wird bestimmt sehr kurzfristig wieder abgesagt. Grund: Aprilscherz der Referendare (Wassereimer über der Tür zum Richterzimmer oder sowas).