Kein Spaziergang nach berufungsrichterlichem Hinweis

Der Mandant war in erster Instanz nicht verteidigt. Wohl auch deswegen konnte der Strafrichter auf die Inaugenscheinnahme der Videoaufzeichnungen verzichten. Ihm reichten vier Standbilder zur Klärung der Frage, wer hier wen geschlagen und wer sich verteidigt hat.

Der Mandant wurde verurteilt und versucht nun sein Glück in der Berufungsinstanz, diesmal allerdings mit Unterstützung eines Verteidigers.

Ich habe Akteneinsicht beantragt und auch die DVD der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) zum Angucken bekommen. Die bewegten Bilder waren aufschlußreicher als die Videoprints; sie bestätigten die Schilderungen des Mandanten, besonders dann, wenn man sich den Geschehensablauf aus den unterschiedlichen Kameraperspektiven anschaut.

Der Vorsitzende der Berufungskammer hat meine Verteidigungsschrift ernst genommen, in der ich das Ziel der Verteidigung konkretisiert und den Weg dorthin skizziert habe: Er hat sich vorbereitend die Aufzeichnungen angeschaut. Und schickt mir ein paar Tage vor dem Verhandlungstermin diese freundliche Nachricht:

Ich habe bereits in meiner Vorbereitung die Aufzeichnungen Frame für Frame angeschaut und daraus ein neues „Filmchen“ (aka Daumenkino) zusammengestellt. Deswegen konnte ich dem Gericht kurz mitteilen, dass die Verteidigung nach nochmaliger und intensiver Berufungszielüberdenkung auf die Zeugen nicht verzichten kann.

Wir dürfen erwarten, dass die Beweisaufnahme kein Spaziergang werden wird.

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Dieser Beitrag wurde unter Richter, Verteidigung veröffentlicht.

10 Antworten auf Kein Spaziergang nach berufungsrichterlichem Hinweis

  1. 1
    Augenstecha says:

    „…konnte der Strafrichter auf die Inaugenscheinnahme der Videoaufzeichnungen verzichten. Ihm reichten vier Standbilder zur Klärung der Frage, wer hier wen geschlagen und wer sich verteidigt hat“

    Gschichten ausm Paulanergarten. Das klingt ja nach einem Gericht eines Entwicklungslandes.

  2. 2
    Willi says:

    @1 Augenstecha

    Naja…
    Die Staatsanwaltschaft legt das Video als Beweis vor und gibt an dass die 4 Videoprints ihre Ansicht stützen.
    Der Angeklagte bringt offensichtlich nicht vor dass das Video was anderes zeigt.

    Und wenn ich in obigem Beitrag und insbesondere im Brief des Richters zwischen den Zeilen lese dann habe ich den Eindruck dass der Berufungsrichter nachdem er die Videos gesehen hat auch eher der Ansicht der Staatsanwaltschaft folgt.

  3. 3
    WPR_bei_WBS says:

    Wer weiß, ob der Angeklagtre das Video überhaupt kannte. Akteneinsicht ohne Anwalt ist ja im praktischen so ein Ding. Erstmal muß man wissen, dass man das Recht hat, dann muß man es als Laie als für nötig erachten („ich habe doch nichts gemacht, das kommt schon raus“), dann muß man die StA dazu bringen, die Rechtslage auch anzuerkennen, und last but not least muß man die dabei eventuell entstehenden Kosten (die StA kopiert und man muß zahlen) auch noch als gerechtfertigt empfinden – mitunter auch, nachdem die StA noch mal „dezent“ auf die möglichen Kosten hingewiesen hat.

    Nun gut, zum Glück für den Angeklagten war es ein Verfahren, bei dem Berufung möglich ist.

  4. 4
    Berti says:

    @3

    Man hat die Möglichkeit, völlig kostenfrei Einsicht in die Ermittlungsakte in den Räumlichkeiten der Staatsanwaltschaft zu nehmen.

  5. 5
    Marco says:

    @Berti#4: Wobei „kostenfrei“ z.B. hier auf dem Land auch so eine Sache ist, wenn erstens die zuständige StA 70-80 km entfernt ist, und man zweitens einen Tag Urlaub braucht, um zu den Bürozeiten die Räumlichkeiten der StA aufzusuchen.

  6. 6
    WPR_bei_WBS says:

    @ Berti

    Klar hat man die. Man kann dann auch mit Kopierer (oder Scanner und Notebook) anrücken, damit man die Unterlagen auch danach noch nutzen kann. Muss man nur erstmal wissen, muss man die Chupze für haben und muss man praktisch auch erstmal hinbekommen, wenn einen die StA nicht ran lassen will.

    Theoretisch alles möglich, nur welcher unverteidigte Otto-Normal-Bürger weiß das alles schon? Oder denkt daran, einen PC mitzubringen, falls die StA ihm die CD in die Hand drückt mit den Worten „Klar, können sie sich angucken. Aber nicht mit unseren Geräten.“?

    Worauf ich hinaus will: Die obige Aussage „Der Angeklagte bringt offensichtlich nicht vor dass das Video was anderes zeigt.“ macht eben gerade vor diesem Hintergrund sehr viel Sinn.

  7. 7
    Willi says:

    @WPR

    Nun ja, was das Video zeigt sollte der Angeklagte zunächst mal auch ohne es zu sehen weitestgehend wissen, er war schließlich dabei als es aufgezeichten wurde.

    • Berücksichtigen Sie bitte, dass der Angeklagte nur einen Fokus hat: Sein Blick richtet sich auf seinen Kontrahenten. Hingegen gibt es sechs Kameraperspektiven. Die Frage, ab wann beispielsweise ein Zeuge den Konflikt beobachtet haben kann (oder ob er nur ein „Knallzeuge“ ist und Rückschlüsse zieht, statt Wahrnehmungen zu berichten), kann der Angeklagte nicht beantworten, ist aber auf den Videos gut erkennbar. crh

    Meine Aussage bezog sich also gar nicht so sehr darauf dass er die Möglichkeit gehabt hätte das Video vorab bei der StA einzusehen, sondern darauf dass er in der Verhandlung doch auch hätte vorbringen können dass der vermeintliche Tatablauf doch ganz anders war und das Video das ja auch zeigt.

    • Und was macht der Angeklagte, wenn der Richter sagt: „Nö. Mir reichen zur Überzeugungsbildung die Videoprints!“ crh

    Nun gut, ein „Daumenkino“ mit ausschließlich den für ihn vorteilhaften Szenen hätte er da nicht erstellen können. Aber zumindest auf das Abspielen des Videos in der Verhandlung hätte er doch auch ohne Anwalt bestehen können, oder?

    • Formulieren Sie mal einen Beweisantrag, an dem der Richter trotz seines entgegenstehendern Willens dann nicht mehr vorbeikommt. Und zeigen Sie dann das Szenario auf, 1. wenn er die Verhandlung nicht unterbrechen will, damit der Angeklagte den Beweisantrag formulieren kann, 2. wenn der Richter den korrekt formulierten Antrag trotzdem ablehnt. Das schaffen manche Anwälte schon nicht … ;-)
       
      Bitte unterschätzen Sie nicht die Komplexität eines Strafverfahrens. Das, was Sie aus dem Fernsehen kennen, reicht nicht. crh
  8. 8
    K75 S says:

    Also wenn die Strafverfolgungsbehörden – wie hier schon irgendwo mal angedeutet – mit der neuesten Bürotechnik des Jahres 1963 (oder so) ausgestattet sind, wundert mich der Verzicht auf die bewegten Bilder nicht.

  9. 9
    Daarin says:

    Das weiß doch jeder Fußballfan, Standbilder taugen höchstens beim Abseits, aber nicht bei grobem Foulspiel.

  10. 10
    Willi says:

    @crh (Kommentare zu meinem Beitrag)

    Was macht der Angeklagte wenn der Richter nicht will….

    Davon stand im Ausgangsbeitrag nix, aber ist das nicht eine Stelle an der der Richter die Grundlage für eine Revisionsrüge schafft (oder welches Rechtsmittel hier in Frage kommt). Klar, spätestens dann nicht ohne Anwalt.

    Nein ich will die Komplexität nicht unterschätzen (sicher auch weil ich durchaus auch schon eine Weile hier mitlese). Aus dem Fernsehen kenn ich da nix, ISCH ABBE NÄMLISCH GAR KEINE FERNSEHE …

    Mir ging es in erstel Linie darum der Behauptung aus Beitrag 1 etwas entgegenzusetzen
    „Das klingt ja nach einem Gericht eines Entwicklungslandes.“

    Genau das ist es nämlich m.E. NICHT.