Ich berichte aus einer Beweisaufnahme vor einer Berufungskammer des Landgerichts.
Die Vorgeschichte:
Der zunächst unverteidigte Angeklagte wurde erstinstanzlich wegen einer Körperverletzung verurteilt. Der Vorfall ereignete sich in einem U-Bahn-Waggon. Die Verurteilung erfolgte, ohne dass der Strafrichter die Standbilder (Videoprints), und erst Recht nicht die Videoaufzeichnung selbst als Beweismittel in das Verfahren eingeführt hatte. Er hat das Urteil allein auf die Aussagen mehrerer Zeugen gestützt. Und aufgrund seiner Erkenntnis, dass der Verurteilte „ersichtlich subkulturellen ‚Ehr‘-Begriffen verhaftet“ sei.
Die Beweisaufnahme
In der Verhandlung vor dem Landgericht wurden alle Zeugen noch einmal gehört, die jeder jeweils einen anderen Geschehensablauf berichteten. Einer dieser Zeugen war ein zwischenzeitlich pensionierter Polizeibeamter, der seinerzeit zufällig und außer Dienst in dem Waggon war.
Der Zeugenbericht
Der Polizist schilderte in seinem Zeugenbericht, dass er sich in dem mittleren Teil des Waggons aufgehalten und genau gesehen habe, wie der Angeklagte im vorderen Teil des Waggons dem Geschädigten einen Schlag ins Gesicht versetzt hatte. Das Gericht und die Staatsanwältin hatten insoweit keine weiteren Fragen mehr an den Polizeibeamten.
Die Zeugenvernehmung
Nun folgte die Vernehmung des Polizeizeugen (Z) durch den Verteidiger (V).
V: Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie sich im Mittelteil des U-Bahn Waggons aufgehalten haben, als sie den Konflikt beobachteten?
Z: Ja, das habe ich doch gerade gesagt!
V: … und von dieser Position aus haben sie den Schlag des Angeklagten in das Gesicht des Geschädigten genau gesehen?
Z: Ja, ich konnte genau sehen, wie der Täter dem Opfer ins Gesicht geschlagen hat. Das habe ich doch gerade dem Richter erklärt.
V: Ich zeige Ihnen nun die Videoaufzeichnung von dem Vorfall. Bitte zeigen Sie mir jetzt noch einmal, wo sie sich zum Zeitpunkt der Auseinandersetzung befunden haben.
Z: Oh! Ich habe ja gar nicht im Mittelteil des Waggons, sondern ganz hinten befunden. Aber ich habe den Schlag genau gesehen!
V: Zwischen Ihnen und dem vorderen Teil des Waggons haben weitere Fahrgäste gesessen und gestanden. Sie haben also trotz dieser vielen anderen Personen den Konflikt genau beobachten können?
Z: Ja! Ich weiß gar nicht, was Sie von mir wollen. Ich habe genau gesehen wie ihr Mandant dem Opfer ins Gesicht geschlagen hat.
V: Ok. Hat der Angeklagte mit seiner rechten Hand oder mit seiner linken Hand zugeschlagen?
Z: Das weiß ich nicht mehr.
V: Hat der Angeklagte mit der Faust zugeschlagen oder mit einer offenen Hand?
Z: Daran kann ich mich nicht mehr erinnern.
V: Hat der Geschädigte zu diesem Zeitpunkt gesessen oder gestanden? (Anm.: Er hat gesessen.)
Z: Er hat gestanden und ist nach dem Schlag nach hinten umgefallen. Dann hat er gesessen.
V: Hatte der Geschädigte zu diesem Zeitpunkt eine Kopfbedeckung auf? (Anm: Der Geschädigte trug eine rote Mütze, tief über beide Ohren und in die Stirn gezogen.)
Z: Nein. Ich konnte seine kurzen dunklen Haare erkennen. *genervt* Und ich habe den Schlag genau gesehen! *aggressiv* Ich weiß gar nicht, warum Sie mir dauernd diese ganzen Fragen stellen.
Die weiteren Antworten
Im weiteren Verlauf dieser Vernehmung durch den Verteidiger berichtete der Polizeibeamte einen Geschehensablauf, der mit dem auf deren Videoaufzeichnungen dokumentierten Ablauf so gut wie gar nichts zu tun hatte.
Die Videodokumentation
Tatsächlich war es so, dass er nicht nur zu weit weg gestanden hat, um den genauen Geschehensablauf beobachten zu können; zwischen ihm und dem Ort des Konflikts war die Sicht durch stehende und sitzende Fahrgäste versperrt.
Auf den Videoaufzeichnungen (vier verschiedene Kameraperspektiven) war zudem erkennbar, dass er zu Beginn des Konflikts in eine andere Richtung geschaut und erst, nachdem es aufgrund der bereits eskalierten Auseinandersetzung sehr laut wurde, sich dem Geschehen zugewandt hat.
Die Ergebnisse
Das Verfahren gegen den Angeklagten wurde eingestellt. Der gesundheitlich aufgrund dieses Verfahrens stark angeschlagene Angeklagte hat aus nervlichen Gründen dieser Einstellung zugestimmt. Gegen den Polizeizeugen wurde kein Ermittlungsverfahren wegen Falschaussage eingeleitet.
Die Nachworte
Die allermeisten der Polizeizeugen machen saubere Arbeit und liefern korrekte, hilfreiche Berichte. Und das ist gut so. Es gibt aber auch solche Typen, wie den, über den ich hier berichtet habe. Ihm reichte es, den „Täter“ anhand seiner Herkunft als solchen zu identifizieren; das einheimische „Opfer“ kann es per se nicht gewesen sein. Glücklicherweise ist dieser Mann nicht mehr aktiv als „Freund und Helfer“ unterwegs.
Mal eine Nachfrage von einem Nichtjuristen (weil ich mich das schon sehr oft gefragt habe):
Hätte der Richter eigentlich ein Verfahren wegen der Falschaussage einleiten (lassen?) müssen? (Ist das nicht ein „offizialdelikt“?) Oder hätte man auch als Beklagter bzw. dessen Verteidiger Strafanzeige erstatten können? Oder gibt es gute Gründe so etwas nicht zu machen, weil das für den Mandanten nachteilig ist?
Da dürfte beim Zeugen ein Weltbild zusammengestürzt sein …
Kann man den Zeugen noch zivilrechtlich zu einem Zuschuß zu den Gerichtskosten und Verteidigerkosten zumindest der zweiten Instanz verleiten?
Hieß es nicht im letzten Beitrag dazu dass die Bildausdrucke aus dem Video die Grundlage der Verurteilung waren?
Ich verstehe diesen ganzen Zinober nicht.
Wenn es doch wunderbare Videoaufnahmen gibt, wieso werden dann noch Zeugen gehört?
Und wenn doch auf dem Video ersichtlich ist, dass der Herr Polizist i.R. nichts gesehen haben kann, wieso wird er überhaupt nochmal gehört?
@3: Wenn ich mich recht erinnere, hatte der Staatsanwalt aufgrund ausgewählter Ausdrucke eine Verurteilung beantragt, die dann vom Richter positiv beschieden wurde, ohne die Ausdrucke gesichtet zu haben.
Zitat aus dem vorhergehenden Beitrag
„… ihm [dem Richter] reichten vier Standbilder zur Klärung …“
Der Satz impliziert bei mir dass der Richter zumindest die Standbilder gesehen hat. Kann ich aber auch falsch verstanden haben.
Es wurde ja nicht explizit geschrieben, dass es hier genau um das Verfahren geht, das Thema des Blogbeitrags vom 3. Juni war. Aber das wäre sonst natürlich schon ein ziemlicher Zufall.
Es gibt einen Unterschied zwischen „der Richter hat die Bilder gesehen“ und „der Richter hat die Bilder als Beweismittel in das Verfahren eingeführt“.
@ crh: War das einer dieser Fälle, in denen man die Notwendigkeit einer Plichtverteidigung aufgrund der „Einfachheit der Sach- und Rechtslage“ ablehnt?
Ein Drittel der Zeugen lügt, das zweite Drittel irrt und das dritte sagt die Wahrheit.
Ist das Beweisbar oder nur eine Unterstellung, dass der Polizist seine Aussage aufgrund der Abstammung des Angeklagten so dargelegt hat,es gäbe auch andere z.B. psychische Gründe ?
Da die Diskussionen weder von Links noch von Rechts, sachlich geführt werden, glaube ich leider nur noch, was wirklich Beweisbar ist. Wut entspringt aus Angst. Nehmt den Leuten die Angst und wir können alle miteinander auskommen, aber Angst lässt sich zurzeit besonders gut verkaufen. Weder die Raser noch die Rentner, noch die Ausländer, die Linken(Randalierer) oder die Rechten(Nazis), Kampfhunde, Raucher, Feinstaub, Klima usw. sind in Summe! auch nur halb so bedrohlich, als wie sie in den Medien und Netzwerken dargestellt werden, aber das ist dann langweilig. Dieses Schnittmengendenken kotzt
mich an, stammt aus Armeezeiten und nimmt uns allen die Freiheit.
Ich kenne das so: Polizeibeamter gibt zu dass er lügt und in der Anzeige gegen mich gelogen hat die Richterin sagt: bevor sie sich des weiteren Meineides schuldig machen RAUS! und wirft den Polizeibeamten aus dem Gerichtssaal. Fall erledigt. Für den lügenden Polizisten.
Für mich: Schaden auf dem ich sitzenbleibe!
Generell wäre es wünschenswert, dass u.a. zur Pflichtlektüre der StA, Richtern, Verteidigern folgendes gemacht würde: „Das trügerische Gedächtnis. Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht“. Das Buch erhellt manchen Kopf und enthält viele weitere Quellen.
@ urmel aus dem Eis
Sie sollten aber bedenken, dass die Richterin nach § 55 II StPO verpflichtet war, den Polizisten auf sein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 I StPO hinzuweisen.
Und da der Polizist in ihrem Fall ja die Lüge gestanden hat, sehe ich jetzt den konkreten Nachteil (im Vergleich zur Fortführung seiner Aussage!) für Sie nicht.
Was mich eher stört ist, dass bei Polizisten das Gericht sich oft vehement gegen eine Vereidigung stemmt. So nach dem gefühlten (!) Motto „Ich will ihm ja nicht die Karriere versauen, falls rauskommt, dass er gelogen hat.“
@wpr: das Geständnis entstand während des Kreuzverhörs durch meinen Anwalt Jonny E.
Natürlich war der Beamte zuvor auf seine Rechte hingewiesen worden. Konkreter Schaden: Mein vom Zivilfahrzeug der Polizei nach US-Cop-Manier grundlos zerschossenes Auto.
Auch Polizisten schauen US-TV-Serien…
Nach 4 Jahren Verfahren zahlte die Landeskasse einen Bruchteil des Schadens, er wurde mit dem selbst herbeigeführten Schaden am Zivi-Auto gegen gerechnet!
@urmel
Lesen bildet ;-). Ich habe nicht umsonst den Teil „im Vergleich zur Fortführung seiner Aussage“ noch mal extra mit einem Ausrufezeichen versehen.
Zu Ihrem Verfahren kann ich mich logischerweise nicht wirklich äussern, ich kenne die Details nicht – scheint aber so, dass das Gericht im Prozess um den Schadensersatz Ihnen eine Teilschuld zugerechnet hat. So ist das mitunter, das eigene Rechtsempfinden muss nicht immer mit dem Recht übereinstimmen. Und selbst wenn, sind Recht haben und Recht bekommen bekanntermassen zwei verschiedene Dinge.
[…] Polizeilicher Knallzeuge und subkultureller Strafrichter, […]