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Richter
Geheimnisverräter, Anstifter und die Pest
Das wichtigste Kapital eines Strafverteidigers ist das Vertrauen seiner Mandanten. Offenbar ist das nicht jedem Anwalt bewußt, denn sonst könnte es einen solchen Vermerk(*) nicht geben.
Wilhelm Brause wird ein Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz (AMG) vorgeworfen. Sein damaliger Anwalt wurde ihm zum Pflichtverteidiger bestellt und ihm die Anklage übermittelt. Die Zustellung der Anklage an Brause konnte nicht erfolgen, weil er unter der Meldeanschrift nicht zu ermitteln war. Dennoch(!) beschloß das Schöffengericht die Eröffnung der Hauptverhandlung. Und versuchte auch noch, ihm die Ladung zum Hauptverhandlungstermin zuzustellen – wie zu erwarten war: ebenso erfolglos.
Die örtliche Polizeibehörde teilte mit, daß Wilhelm Brause unter seiner Wohnanschrift nicht mehr zu ermitteln sei. Dann erfolgte das Telefonat des Richters mit dem Verteidiger und die Niederlegung des Vermerks in der Akte.
Die Standard-Frage, die alle Juristen aus ihrem Studium kennen, lautet: Wie haben sich die Beteiligten strafbar gemacht?
1. Wilhelm Brause
Das werde ich zu einem späteren Zeitpunkt klären. Ein Verstoß gegen das AMG ist es jedenfalls nicht. Mir fällt noch ein Melderechtsverstoß ein, das ist aber auch nur eine Ordnungswidrigkeit.
2. Der Verteidiger
Der Rechtsanwalt teilt dem Richter Informationen mit, die er im Zusammenhang mit seinem Mandat erhalten hat: Kein Kontakt, keine eMails, keine Telefonate. Liegt hier nicht ein klassischer Verstoß gegen § 203 I Nr. 3 StGB vor?
3. Der Richter
Wenn sich der Verteidiger eines Geheimnisverrats strafbar gemacht hat, wäre die Frage des Richters: „Hömma, Verteidiger, weißt Du, wo Dein Mandant sich aufhält?“ strafrechtlich nicht als Anstiftung nach § 26 StGB zu werten?
Mir ist es völlig egal, ob Verteidiger und/oder Richter sich den Vorwurf der Begehung einer Straftat gefallen lassen müssen. Entscheidend ist, daß die unauthorisierte Weitergabe dieser Informationen durch den Verteidiger, ein äußerst übler Vertrauensbruch ist, für den ich dem Anwalt die Pest an den Hals wünsche.
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(*): Anruf RA P. Er hat keinen Kontakt zum Angekl. Eine Handy-Nr. sei abgemeldet, auf E-Mails reagiere er nicht. Ich erkläre, den Termin am 19. Juni aufzuheben.
Ein schnuckeliges Amtsgericht auf der Insel
Ein großer Vorteil des Strafverteidigers gegenüber Richtern und Staatsanwälten besteht in der Möglichkeit des Ortswechsels. Während die justiziellen Organe der Rechtspflege nur selten aus ihrem Sprengel herauskommen, ist das freie Organ oft in der gesamten Republik unterwegs.
In der vergangenen Woche war ich in Bergen auf Rügen unterwegs. Weil ich entspannt und gut vorbereitet zum Termin am Mittwochmorgen erscheinen wollte, bin ich bereits am Sonntagabend angereist, auch um mich langsam an das Reizklima der Ostsee akklimatisieren zu können. ;-)
Auch auf Bergen ist man vorsichtiger geworden. Als ich das Gebäude betrat, wurde ich gleich von einem Wachtmeister in Empfang genommen, der mich erst freundlich begrüßte und dann nach dem Grund meines Besuchs fragte. Erst nachdem ich mich artig vorgestellt habe, öffnete er mir die Tür zum Treppenhaus in den ersten Stock.
„Saal A200“ war natürlich ein Fake. Es gibt dort nicht zweihundert Säle, sondern – von mir grob geschätzt – nur zwei. Aber Klappern gehört ja nicht nur bei Strafverteidigern zum Handwerk.
Meinem Mandanten wurden zwei falsche uneidliche Aussagen (§ 153 StGB) vorgeworfen. Also eine Straftat, deren „Geschädigte“ die Justiz ist. Das war schonmal der erste Grund für die anfängliche Zurückhaltung der Richterin. Eine zweite Ursache könnten ihre Recherchen über meine Herkunft gewesen sein.
Die Verhandlung begann gleichwohl in einer recht entspannten Atmoshäre. Sie endete unerwartet schnell, denn es zeichnete sich bald eine friedliche Lösung des Konfliktes ab.
Die Richterin war allerbestens vorbereitet. Sie kannte sämtliche Details der Strafakte; auch die beigezogenen vier Bände der Zivilakte hatte sie im Griff. Die aktuelle Rechtsprechung des BGH in Zivilsachen(!) zum Thema dieser Strafsache schüttelte sie aus dem Ärmel.
Und sogar, was den Verteidiger anging, war sie bestens informiert. Bei unserer Verabschiedung nach Schluß der Verhandlung teilte sie mir mit, daß sie genau wisse, daß ich seit Jahren schon meinen Lebensunterhalt mit Straftaten verdiene. Das habe sie irgendwo gelesen.
Dem Mandanten hat das Ergebnis gefallen; ich werde mich gern an das schnuckelige kleine Amtsgericht und die freundliche Verhandlungsatmosphäre erinnern.
Und ich würde mich sehr freuen, wenn ein solches Kleinod eines Gericht dem Justizpublikum noch lange erhalten bleibt und nicht aus kalten ökonomischen Gründen wegrationalisiert wird.
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Bild: © Gerhard Giebener / Bergen auf Rügen – Amtsgericht (2) / CC BY 2.0 / Link
Respekt vor einer Pflichtverteidigerbestellung
Die Richterin eines auswärtigen Gerichts rief mich an und fragte mich, ob ich bereit sei, eine Pflichtverteidigung in einer Wirtschaftsstrafsache zu übernehmen. Sie beabsichtige, mich einem Angeklagten zum Pflichtverteidiger zu bestellen.
Da ich sehr gern und oft auch außerhalb des Mollochs Moabit unterwegs bin, habe ich ihr zugesagt.
Es ist nicht das erste Mal, daß ich bei dieser Richterin verteidige. Wir kennen uns seit einigen Jahren und es hat immer wieder herrliche Auseinandersetzungen gegeben – ihr Verständnis von Ihrer Aufgabe wich nicht selten von meinen Vorstellungen ab. Die Beweisaufnahmen standen stets unter einem kontradiktorischen Stern.
Sie wußte also, daß ich kein Verurteilungsbegleiter bin und als Verteidiger keine „Sterbehilfe“ leiste. Dennoch oder gerade deswegen erging der entsprechende Beschluß und ich bin nun der gerichtsgewählte Pflichti des Mandanten.
In der Akte finde ich dann folgenden Vorlagebeschluß nach § 209 Abs. 2 StPO:
Die Staatsanwaltschaft hatte die Anklage zum Strafrichter erhoben, weil sie von einer Strafe von maximal zwei Jahren ausausgeht. Die Richterin, die über die Zulassung der Anklage zu entscheiden hatte, meinte nun, ihre Strafkompetenz reiche nicht! Deswegen soll das Schöffengericht ran an die Sache, weil ein Strafrichter, der von zwei Schöffen begleitet wird, maximal vier Jahre ausurteilen darf.
Das Schöffengericht lehnte die Übernahme allerdings dankend ab, eröffnete vor dem Strafrichter und schickte die Akte wieder zurück an die Strafrichterin.
Vor diesem Hintergrund und der Kenntnis des Verteidigungs-Engagements eines Kreuzberger Strafverteidigers ist meine Bestellung zu Pflichtverteidiger durchaus einen respektablen Blogbeitrag wert.
Ich freue mich, daß es Richter gibt, die Verteidiger, die ihre Aufgabe ernst nehmen, nicht als Störfaktor, sondern als unverzichtbaren Bestandteil eines fairen Strafverfahrens anerkennen.
Und ich bin gespannt auf die Reaktion der Richterin, wenn ich mich mit meinem Mandanten laut über ein Ablehnungsgesuch unterhalte.
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Bild: © Angela Parszyk / pixelio.de
Erkaufte Freiheit und ein abgeschobener Monsterhahn
Eine außergewöhnliche Konstellation führte in einer Steuerstrafsache zur Entlassung unseres Mandanten, nachdem der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt werden *mußte*.
Den drei Angeklagten wird vorgeworfen, an einem Umsatzsteuer-Karussell beteiligt gewesen zu sein. Bummelige 90 Millionen Euro reklamiert die Staatsanwaltschaft als Steuerschaden. Die Ermittlungen liefen seit 2014, die Anklage stammt aus 2016, die Hauptverhandlung vor der Wirtschaftsstrafkammer begann im Frühjahr 2017.
Derjenige, den die Staatsanwaltschaft als den Haupttäter des Trios bewertet, war bereits Ende 2016 von der Untersuchungshaft verschont worden. Unser Mandant – nach dem Ranking der Staatsanwaltschaft angeblich die Nummer 2 – wurde (erst) Anfang 2017 inhaftiert, obwohl der Haftbefehl bereits im Oktober 2016 erlassen wurde.
Die Staatsanwaltschaft und das Amtsgericht unterstellten unserem Mandanten, er würde sich dem Verfahren durch Flucht entziehen. Weggelaufen war er aber trotz Kenntnis von dem Ermittlungsverfahren nicht. Im Gegenteil: Aus familiären Gründen stabilisierte sich seine Unbeweglichkeit.
Dennoch: Die Fluchtgefahr wurde mit dem Standard-Textbaustein „Fluchtanreizbietende Straferwartung“ begründet. Viel mehr hatten die Verfolger nicht – von dem üblichen Unsinn der Auslandsbeziehungen aufgrund fremder Staatsangehörigkeit der Großeltern einmal abgesehen.
Allerlei Versuchen der Verteidigung, den Haftbefehl außer Vollzug zu setzen, stellte sich die Kammer mit wiederholten Tricksereien und zahlreichen aus dem Hut gezauberten Hühnchen entgegen.
Am siebten Hauptverhandlungstermin ergab sich die starke Vermutung, daß der Hauptangeklagte verhandlungsunfähig ist; zumindest konnte seine Verhandlungsfähigkeit nicht positiv festgestellt werden. Das Verfahren wurde ausgesetzt, damit er intensiver untersucht werden kann. Wenn er sich denn untersuchen läßt.
Diese Aussetzung war dann der Tropfen, der endlich das Verhältnismäßigkeitsfaß zum Überlaufen brachte. Die Strafkammer, die sich – zuvörderst in Person des Vorsitzenden – mit Klauen und Zähnen gegen die Haftverschonung unseres Mandanten gewehrt hat, konnte nun wirklich nicht mehr anders:
Der Haftbefehl wurde außer Vollzug gesetzt. Allerdings nicht einfach so, sondern gegen ein paar bunte Auflagen: Dreimal pro Woche einem Polizeibeamten einen schönen guten Tag wünschen, sämtliche Ausweise und Pässe abgeben und eine Kaution in Höhe von 10.000 Euro hinterlegen.
Die Familie und Freunde haben gesammelt, damit sie das Geld auf die Theke der Hinterlegungsstelle beim Amtsgericht legen konnten, um unseren Mandanten den Blechnapf zu ersparen:
Im November – so der Plan – soll es dann nochmal von vorn beginnen. Mit einem neuen Vorsitzenden. Den alten hat man ein ruhigeres Fahrwasser in der Verwaltung abgeschoben; das Leben als Chef einer Wirtschaftsstrafkammer hat ihn – so jedenfalls mein Eindruck – an die Grenzen seiner ihm noch verbliebenen Leistungsfähigkeit geführt. Er bedauerte allerdings, jetzt nicht mehr das Hühnchen den Monsterhahn kennen lernen zu können, den ich mit ihm gerupft hätte.
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Hühner-Bild: © Bigstockphoto.com/cascoly/Steve Estvanik
Das richtige Strafmaß aus Sicht des Berufungsgerichts
Der Mandant wurde vom Amtsgericht zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt. Es gab Zoff unter Saufkumpanen um eine Flasche Jim Beam. Nachts um 3 Uhr.
Die Staatsanwaltschaft sah in dem Tatgeschehen einen Raub, die Verteidigung war mit der Körperverletzung einverstanden (also mit der Verurteilung wegen der Körperverletzung ;-) ).
Außerdem war der Staatsanwaltschaft das Strafmaß zu niedrig angesetzt. Sie legte Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil ein. Zwei Tage später und noch fristgerecht ging auch die Berufung des Mandanten beim Gericht ein.
Die Hauptverhandlung vor der Berufungskammer begann der Vorsitzende Richter mit den folgenden weisen Worten:
Wenn sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung ein Rechtsmittel gegen ein Urteil einlegen, ist das ein sicheres Indiz dafür, daß das Urteil und das Strafmaß in Ordnung sind.
Das fand die Verteidigung gut. Die Staatsanwaltschaft zierte sich noch etwas und war dann zu einer Einigung bereit: Wenn die Verteidigung ihre Berufung zurück nimmt, dann stimme sie der Rücknahme zu und erkläre anschließend ihrerseits die Rücknahme.
Gesagt. Getan. Rechtskraft. Und alle waren zufrieden.
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Bild: © Wolfgang Dirscherl / pixelio.de
Selbstnichtlesenkönnenverfahren
Ein wesentlicher Grundsatz in unserem Strafprozeß ist die Mündlichkeit. Das ist gerade in umfangreichen Wirtschaftsstrafsachen oftmals mehr als lästig.
Weil unsere Prozessordnung nicht von Kafka geschrieben wurde, soll und muß die Öffentlichkeit die Möglichkeit haben, die Verfahren zu beobachten. Der Öffentlichkeitsgrundsatz und die daraus resultierende Mündlichkeit sind grundlegende Maximen eines rechtsstaatlichen Verfahrens.
Daraus folgt das Erfordernis, daß alles, worauf das Gericht später sein Urteil gründen möchte, vor versammelter Mannschaft in das – öffentliche – Verfahren eingeführt werden muß. Grundsätzlich jedenfalls.
Jetzt haben es Steuer- und Wirtschaftsstraftaten oft an sich, daß zuvor viel Papier beschrieben und ausgedruckt wurde, auf das die Ermittlungsbehörden erst zugegriffen und dann zur Grundlage einer Anklage gemacht haben.
In einem aktuellen Fall geht es um insgesamt sieben prall mit Rechnungen geführte Stehordner, aus denen sich laut Anklage die Schadenshöhe ergeben soll. Die Höhe eines Schadens hat entscheidenden Einfluß auf die Höhe der Strafe. Also muß das Gericht den Schaden belegen. In diesem Fall unter anderem mit den geordneten Rechnungen.
An dieser Stelle nimmt das lästige (s.o.) Problem Konturen an.
Die Rechnungen müssen als Urkunden in das Verfahren eingeführt werden. Das geschieht durch Verlesung, § 249 Abs. 1 Satz 1 StPO, und ist der Job der Richter.
Aber – jetzt kommt die sehnlichst erwartete Ausnahme vom Grundsatz – der Gesetzgeber hatte Mitleid mit den Stimmbändern der Richter, hat sich das sogenannte Selbstleseverfahren ausgedacht und in § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO geregelt:
Von der Verlesung kann […] abgesehen werden, wenn die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde oder des Schriftstücks Kenntnis genommen haben und die übrigen Beteiligten hierzu Gelegenheit hatten.
In der Praxis druckt das Gericht für jeden Staatsanwalt, Schöffen, Angeklagten, Verteidiger … einen Satz der Urkunden aus, damit diese von den Verfahrensbeteiligten – vielleicht auf einer bequemen Liege an einem schönen Strand – selbst gelesen werden müssen bzw. können. Das erspart stundenlange und ermüdende Vorlesungen im Gerichtssaal.
Soweit so praktisch. Manchmal geht dabei aber etwas schief.
Einer Anklagten reklamierte nach Übergabe der sieben Ordner, daß er ein Problem habe: Er könne nicht lesen! Er trug weiter vor, daß auch seine Deutschkenntnisse nicht ausreichten, um den Inhalt der Urkunden erfassen zu können. Nach einem imaginären, aber entsetzen Aufschrei eines zunächst ungläubigen Vorsitzenden stand schnell fest: Der Angeklagte schwindelt nicht.
Was ist nun die Konsequenz?
Es gibt zwei Möglichkeiten.
- Der Vorsitzende beißt in den siebenbändigen Apfel, hebt die Anordnung des Selbstleseverfahrens auf, verliest die Rechnungen und ein Dolmetscher übersetzt die Inhalte simultan.
- Der Dolmetscher wird beauftragt, die Rechnungen zu übersetzen und sie dann dem Angeklagten vorzulesen.
Vielleicht fällt dem Gericht noch eine dritte Variante ein. Es wird aber so oder so nicht einfach werden, aus dieser Nummer herauszukommen.
Zumal es einen weiteren Grundsatz gibt, den er auch nicht so ohne Weiteres hinten rüber kippen kann: Den der Verfahrens-Beschleunigung in Haftsachen – einer der Mitangeklagten sitzt in Untersuchungshaft.
Manchmal ergeben sich Probleme, die man noch nicht einmal einem Richter wünscht. Hauptsache ist aber, daß genügend Popcorn vorrätig ist.
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Bild „Ordner“: © Claudia Hautumm / pixelio.de
Bild „ABC“: © S. Hofschlaeger / pixelio.de
Schuld sind immer die anderen
Aus dem Beschluss des Landgerichts Koblenz vom 29. Mai 2017, mit dem das Aktionsbüro-Mittelrhein-Verfahren gemäß § 206a StPO wegen des Verfahrenshindernisses der überlangen Verfahrensdauer eingestellt wurde:
Darüber hinaus kam es zu Abbrüchen von Hauptverhandlungstagen durch zwei Stinkbombenanschläge mit Buttersäure im und vor dem Sitzungssaal, die zur teilweisen Räumung des Gerichtsgebäudes und zu Feuerwehreinsätzen führten. Zu Verzögerungen kam es in einem Fall auch durch inszenierte lautstarke Proteste rechtsgerichteter Personen im Zuschauerraum unter Mitführung von Plakaten. Eine weitere Verzögerung ergab sich aufgrund einer Aktion eines Verteidigers, der es als „Organ der Rechtspflege“ für nötig befand, auf den Tisch zu klettern von dort stehend verbale Äußerungen von sich zu geben. Demgegenüber trug ein in Reimform vorgetragener Antrag eines anderen Verteidigers nicht zur Verfahrensverzögerung bei. Während einer kurzen Unterbrechung der Vernehmung eines politisch linksgerichteten Zeugen sammelten sich in Abwesenheit des Zeugen mehrere Angeklagte um den Zeugentisch. Als die Zeugenvernehmung fortgesetzt werden sollte, befand sich Spucke auf dem Zeugentisch. In einem anderen Fall wurde die im Sitzungssaal aufgehängte Jacke eines politisch linksgerichteten Zeugen in einer Verhandlungspause bespuckt. In den von den Angeklagten benutzten Toiletten kam es mehrfach zu groben Verunreinigungen und Hakenkreuzschmierereien. Keiner dieser Vorfälle konnte einer konkreten Person zugerechnet werden.
und:
Zahlreiche Angeklagte und Verteidiger haben das Verfahren bewusst und vorsätzlich sabotiert, um die Verfahrensdauer soweit hinauszuzögern, dass der Vorsitzende das Verfahren nicht mehr bis zu seinem zwingenden Eintritt in den Ruhestand abschließen konnte.
Den Link auf den Beschluß habe ich gefunden auf Twitter; und zwar in einem Tweet meines geschätzten Kollegen Lars Ritterhoff aus Freiburg, der einen zutreffenden Kommentar dazu veröffentlicht hat:
Auch für Nicht-Strafrechtler lesenswert, die Verhandlungstage müssen unterhaltsam gewesen sein https://t.co/LoSJvelb2j
— Lars Ritterhoff (@RARitterhoff) 10. Juni 2017
Wer sich auch aus anderer – nicht richterlicher – Perspektive mit dem Verfahren beschäftigen will, wird erkennen, daß es nicht allein oder gar überwiegend vermeintliche Sabotageakte einzelner Verteidiger gewesen sind, die zum Platzen geführt haben. Es soll Richter geben, die sehr genau wissen, wie man solche Ergebnisse wie das vorliegende ziemlich sicher vermeidet. Die Fähigkeit zur Verhandlungsführung ist jedoch nicht jedem Vorsitzenden gegeben.
Keine Langeweile für Wirtschaftsstrafrechtler
Die bekannten und in bestimmten Kreisen der Bevölkerung beliebten Umsatzsteuer-Karussells – Insider sprechen auch von Missing trader fraud – sind eigentlich out. Zuviele Steuerfahnder haben das System mittlerweile verstanden.
Deswegen haben sich findige Sparfüchse neue Steuertricks einfallen lassen: Die Cum-Cum- oder Cum-Ex-Tricks. Hört sich fast ein bisschen öbszön an, die Beträge, über die aktuell in den Medien gesprochen wird, sind es aber auch.
Wie man mit diesem relativ aktuellen Steuersparmodell an das Geld anderer Leute kommt, ohne dafür arbeiten zu müssen, hat Zeit Online in einem Erklärvideo verständlich aufgearbeitet.
Um welche Beträge es sich dabei handeln soll, haben ein paar findige Journalisten anschaulich darzustellen versucht, auf Zeit Online: Bummelige 31,8 Milliarden Euro soll der angeblich-vermutliche Steuerschaden betragen. Einfach zu berechnen ist das nicht, deswegen bin ich vorsichtig mit dieser Behauptung.
Wer etwas tiefer in diese Materie einsteigen will und trotzdem (zumindest erst einmal) die staubige Fachliteratur nicht anpacken möchte, kann es sich mit dem Artikel unter der Überschrift „Der größte Steuerraub in der deutschen Geschichte“ heute Abend auf der Couch bequem machen.
Aber Vorsicht!
Don’t try this at home. Das Modell ist nur etwas für Erwachsene. Auch die zu erwartende Freiheitsstrafe, wenn sich denn eine Verurteilung nicht vermeiden läßt.
Ich kann mir schon gut vorstellen, wie sich gelangweilte WiJs-Staatsanwälte und unterforderte Wirtschaftsstrafkammern auf diese abwechslungsreichen Verfahren freuen …
Nur eine armselige CD
Die Verteidiger in einem Verfahren wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz wollten sich nicht darauf verlassen, daß die Aschenputtel bei der Kriminalpolizei schon alles richtig gemacht haben. Wir wollten also nicht nur ins Töpfchen gucken, sondern auch ins Kröpfchen.
Ein solches Begehren wird nicht gern gesehen; denn welcher Ermittler läßt schon gern seine Arbeit von Strafverteidigern überprüfen. Aber diesmal hat’s funktioniert, ein entsprechender Antrag hatte Erfolg: Die Ermittler schickten eine CD mit der Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) zum Gericht, die das LKA für nicht verfahrensrelevant gehalten wurden.
Soweit, so gut.
Nun schickt mir das Gericht diese Mitteilung:
Zur Information: Es sind insgesamt 12 Verteidiger in diesem Verfahren engagiert. Die sollen sich nun die eine CD „teilen“.
Ich bin versucht, an den Vorsitzenden zu schreiben:
… beantrage ich die Unterbrechung des Verfahrens für mindestens 12 mal drei Werktage.
Für die Abholung des Datenträgers benötige ich einen Tag, das Kopieren in unserer Kanzlei nimmt etwa auch einen Tag in Anspruch, so daß ich die CD am dritten Tag wieder auf der Geschäftsstelle abgeben kann.
Für den Fall, daß ich die CD nicht vorbeibringen kann, wird es wohl ein oder zwei Tage länger dauern, bis der nächste Verteidiger sich den Datenträger zum Kopieren abholen bei.
Bei 12 Verteidigern ist also davon auszugehen, daß schätzungsweise 36 Tage benötigt werden, bis jeder der Verteidiger eine CD zur Einsichtnahme erhalten hat.
Danach kann dann festgestellt werden, ob es gelungen ist, den sechs in U-Haft sitzenden Angeklagten den Inhalt der CD zur Kenntnis und Durcharbeitung zur Verfügung gestellt werden konnte. Gegebenenfalls wird dann eine weitere Unterbrechung der Hauptverhandlung erforderlich werden.
Wenn der Vorsitzende aber etwas weiter denken würde als vom Estrich bis zum Teppichfilz, könnte er ja auf die Idee kommen, fünf weitere Kopien der CD anzufertigen, um diese den Verteidiger-Pärchen im nächsten Termin zu übergeben. Dann wäre eine unplanmäßige Unterbrechung sicher entbehrlich.
Wenn die Jusitzkasse den Verteidigern schon die Auslagen für die Anfertigung von Aktenkopien mehr erstattet, dann können sie ja auch die Kopien der Datenträger selbst anfertigen. Nicht wahr?!
Armes Landgericht! (… wird man ja wohl noch sagen dürfen).
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Bild: © Gisela Peter / pixelio.de
Die Kugel der Richterin
Es ist ein Verfahren, das seinen Anfang in einer Denunziation hatte. Eine ehemalige Mitarbeiterin teilte einer überforderten Staatsanwältin Details aus dem früheren Beschäftigungsverhältnis mit. Das war zum einen die Retourkutsche für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Und andererseits erhoffte sich die Anscheißerin den Rabatt des § 46b StGB. Denn auch sie war Beschuldigte in einem Strafverfahren. Dementsprechend war die Qualität der Strafanzeige.
Das war im Jahr 2011. Die Ermittlungen zogen sich hin. Und irgendwann im Januar 2016 gelang es dieser Staatsanwältin endlich, die Anklageschrift fertig zu stellen. Oder das, was sie als Anklageschrift bezeichnete. Kompetente Strafjuristen bedauerten das Papier, das der Staatsanwältin hilflos ausgesetzt war.
Naja, die Anklage wurde trotz anwaltlicher Gegenwehr zugelassen, und zwar zum erweiterten Schöffengericht (§ 29 GVG). Auch die Anträge der Verteidigung auf Nichtverlesung der Anklageschrift waren nicht erfolgreich.
Aber so richtig gute Laune hat das Werk der Staatsanwältin auch beim Gericht nicht verbreitet. Jedenfalls schlug der Richter (!) coram publico vor, das Verfahren gegen beide Angeklagten nach § 153a StPO einzustellen.
Erleichterung auf seiten der Verteidigung, die sich diesem Vorschlag sofort anschloß. Allein die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft, eine Frau in sehr jungen Jahren, meinte (nicht: „argumentierte“!), das Verfahren durchziehen zu müssen. Alles gutes Zureden nützte nichts, die wenig erfahrene Strafverfolgerin blieb stur wie tausend Rinder.
Und dann nahm – aus Sicht des Richters – das Elend seinen Lauf: Die Angeklagten verteidigten sich nicht nur durch Schweigen, sondern auch durch aktive Gestaltung der Beweisaufnahme.
Es war aber nicht der komplizierte Sachverhalt aus dem Sozialversicherungsrecht, der dem Gericht (und vorher schon dieser Staatsanwältin) die Sorgenfalten auf die Stirn riefen. Die häßlich penetranten Beweisanträge der Verteidigung nahm der Vorsitzende auch noch routiniert entgegen. Sogar die intensive Befragung der Zeugen, die den richterlichen Terminsplan zum Explodieren brachte, führte nicht zum Kentern.
Sondern die Kugel der beisitzenden Richterin, die die aufmerksamen Verteidiger bereits beim ersten Aufruf der Sache bemerkt hatten, stellte den Richter vor ein Fristenproblem.
Keiner der männlichen Verteidiger hat sich – aus naheliegenden, hochrisikobehafteten Gründen – getraut, direkt nach der Ursache des Dickbauchs zu fragen.
Aber die sachverständigen weiblichen Angeklagten hatten die Sache im Griff die Kugel im Blick. Und sie wagten eine erste, wenn auch vage Prognose: Lange könne es nicht mehr dauern bis zur Niederkunft.
Der stets optimistische Richter ist bei der Terminierung noch davon ausgegangen, das Verfahren in drei Terminen noch vor Beginn des Mutterschutzes (§ 3 Abs. 2 MuSchG) zuende zu bringen.
Da sich die Staatsanwaltschaft aber querstellte und die Verteidigung engagiert betrieben wurde, war absehbar, daß auch die Frist des § 6 Abs. 1 S. 1 MuSchG gerissen wird. Danach dürfen Mütter bis zum Ablauf von acht Wochen nach der Entbindung nicht beschäftigt werden. Dieses Verbot beinhaltet, daß die Beschäftigung innerhalb der Frist zwingend verboten ist, eine Einwilligung der beisitzenden Richterin ändert an dem absoluten Arbeitsverbot nichts. Einmal abgesehen von möglichen Komplikationen, die eine Schwangerschaft und Geburt mit sich bringen können.
Der Vorsitzende Richter tat das einzig Richtige: Er zog die Reißleine und das Gericht beschloß:
Nun kann noch einmal in aller Ruhe und außerhalb der Hauptverhandlung nach einer Einigung gesucht werden. Findet die sich nicht, geht das Ganze wieder von vorne los … nach der Präsenzfeststellung mit dem Antrag auf Nichtverlesung der mangelhaften Anklageschrift, schweigenden Angeklagten, engagierten Beweisanträgen und mit Zeugen, die sich auf ihr Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO berufen werden.
Man hat es halt nicht leicht als Richter …
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Bild: © Jutta Wieland / pixelio.de