Die Suche nach dem Fehler in einer Belehrung nach § 55 StPO gestaltete sich schwieriger, als ich beim Schreiben des Blogbeitrags über die Schlabberei der Mordkommission erwartet hatte.
Der Ermittler der Mordkommission wies die Zeugin u.a. darauf hin, daß sie keine Angaben machen müssen, wenn sie sich oder einen nahen Angehörigen dadurch belastet.
Das ist falsch, weil zu eng (RA Schepers) bzw. unvollständig (Rene), aber unter den Beleerenden weit verbreitet.
Dabei ist das Gesetz eindeutig formuliert:
Jeder Zeuge kann die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihm selbst oder einem […] Angehörigen die Gefahr zuziehen würde, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden.
Es geht um den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit, den schon die alten Griechen auswendig lernen mußten: „Nemo tenetur se ipsum accusare.“
Seine Grundlage findet dieses Prinzip im Allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) und in der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Die daraus folgenden Prozessrechte in § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO (für den Beschuldigten) und in § 55 Abs. 1 StPO (für den Zeugen) sind also ziemlich hoch aufgehangen und werden als grundrechtsgleiche Rechte gehandelt.
Deswegen ist es auch zwingend notwendig, sehr sorgsam damit umzugehen und nicht zu schlabbern.
Die Belehrung in dem zitierten Beispiel unterschlägt, daß die Zeugin ein Recht zur Auskunfstverweigerung schon dann hat, wenn (für sie oder einen Angehörigen) die Gefahr besteht, daß ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden kann.
Bloße Vermutungen ohne Tatsachengrundlage oder rein denktheoretische Möglichkeiten reichen zwar noch nicht aus, eine solche Verfolgungsgefahr zu bejahen. Aber daß sich die Zeuge direkt belasten müßte, muß nun auch nicht sein.
Der Münchener Kommentar zur StPO schreibt daher ganz weise:
Eine Verfolgungsgefahr iSd § 55 liegt schon weit im Vorfeld einer solchen Belastung, wenn es sich um Fälle handelt, in denen nicht auszuschließen ist, dass die Angaben des Zeugen Rückschlüsse auf eine Tat zulassen …
Man nehme nur den ALG-2-Empfänger und die vordergründig unverfängliche Frage des Kriminalen, wie er denn zu Wache gekommen sei. Wenn der Hartzi seine neue AMG-S-Klasse auf den Parkplatz vor der Direktion gestellt hat, zieht die wahrheitsgemäße Beantwortung den dringenden Bedarf auf eine effektive Strafverteidigung gegen den Vorwurf zumindest eines gewerbsmäßigen Betruges nach sich.
So eine Verfolgungsgefahr in verständlichen Worten zu formulieren, fällt nicht nur manchem Polizisten des mittleren Dienstes schwer. Erfahrene Strafverteidiger kennen das Problem auch sehr gut aus Belehrungen durch Große Strafkammer Vorsitzende und kleine Amtsrichter. Dabei ist der Blick in den Gesetzestext doch ganz einfach, wenn man es denn gut meint mit den grundrechtsgleichen Rechten der Zeugen.
Nun schließen sich weitere Fragen an: Was ist die Konsequenz einer solchen Rechtsverletzung? Welche Rechte hat unser S-Klasse-Hartzi?
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